Berlinale:Konstruiertes Arkadien

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Unser Müll geht nach Afrika – aber dort gibt es Menschen, die wieder Kunst daraus machen: Szene der Doku „Système K“ von Renaud Barret. (Foto: Azgard Wenga Itambo / Berlinale)

Entdeckungen in den Nebenreihen: Auf der Berlinale kann man dieses Jahr einer afrikanischen Spur folgen - die zurückreicht bis zu Machwerken über "edle Wilde" aus den Sechzigerjahren.

Von Philipp Stadelmaier

Die Berlinale ist bekanntermaßen ein guter Ort für Entdeckungen. Allein deswegen, weil gerade in den Nebenreihen Panorama und Forum immer so viele Filme gezeigt werden, dass beinahe automatisch etwas Interessantes darunter sein muss. Es kann einem sogar passieren, dass man wie ein Archäologe in den gezeigten Filmen plötzlich auf Spuren aus früheren Filmen stößt, die vor langer Zeit schon einmal auf dem Festival gezeigt wurden. So geht es einem in diesem Jahr mit "African Mirror", einer Dokumentation, die im Forum läuft, und in der ein heute vergessenes Werk von 1960 auftaucht, das einstmals in Berlin im Wettbewerb lief.

Der Film trug den reißerischen Titel "Mandara - Zauber der Schwarzen Wildnis". Der Regisseur war der schweizer Dokumentarfilmer und Reiseschriftsteller René Gardi, der es damals als "Afrikaexperte" in der Schweiz und Deutschland zu einiger Berühmtheit gebracht hatte. Gardi war mit großen Hoffnungen auf einen Goldenen Bären nach Berlin gekommen, hatte er doch lange in Afrika gefilmt, um das "wahre" Leben von Menschen einzufangen, die für ihn edle Wilde waren - minderbemittelte, aber herzensgute Naturmenschen. Gardis Hoffnungen wurden enttäuscht, der Film ging bei den Preisen leer aus. Heute muss man sagen: Zum Glück.

Seit Gardis Film sind fast sechzig Jahre ins Land gegangen und ebenso viele Berlinalen. In dieser Zeit hat es sicher genug Festivalbesucher gegeben, die sich im rauen Berliner Februar in südlichere Regionen der Welt wie Afrika gesehnt haben, allein der Wärme wegen. Man kann sich ja aber auch im Kino wärmen und dabei kluge Filme schauen, und einige der klügsten Filme sind bei der diesjährigen Berlinale solche, die sich mit Afrika befassen.

Wie eben "African Mirror", in dem der schweizer Filmemacher Mischa Hedinger das Lebenswerk seines Landsmanns Gardi kritisch aufbereitet und auseinandernimmt. Hedinger arbeitet auch als Cutter, was seinem Film zugutekommt. Geschickt bastelt er qua Montage ein Porträt, das ausschließlich aus Material besteht, das der im Jahr 2000 verstorbene Gardi selbst hinterlassen hat: Filmaufnahmen aus den alten französischen Kolonien, Fotos, Tonbandaufnahmen, Fernsehauftritte, Auszüge aus Texten. Hedinger enthält sich jeden eigenen Beitrags, die Bilder und Worte von Gardi sprechen für sich selbst. Und machen evident, wie gebildet Rassismus daherkommen kann.

Für Gardi zeichnen sich schwarze Menschen durch Natürlichkeit und Ursprünglichkeit aus. Im Radio und Fernsehen diskutiert er die Frage, wie mit diesen "Wilden" umzugehen sei, die er mag, die aber in seinen Augen keine Kultur haben. Sie können ja, so darf man sich anhören, weder richtig essen noch bauen - selbst schlafen tun sie nicht, wie sie es eigentlich sollten! Was kann die überlegene weiße Rasse da tun, als den "Primitiven" geduldig das "richtige" westliche Leben beizubringen - auch wenn sie das Entwicklungsniveau der Weißen nie erreichen werden? Wie diese Erziehung aussieht, wird auch klar. Die Leute müssen arbeiten, um Steuern zu bezahlen - ansonsten brennt man ihre Höfe nieder. Was schade ist, meint Gardi. Aber die Unkultivierten seien wie Kinder, die den Wert von Arbeit noch nicht verstehen und gezüchtigt werden müssen.

Abgesehen von Gardis offensichtlichem Rassismus ist bemerkenswert, wie schamlos er Afrika in eine falsche, künstliche, idealisierte Traumwelt verkitscht. Er träumt davon, einen Zaun um den von ihm beobachteten Stamm in Kamerun zu bauen, um ihn vor jeglichem verderblichen Einfluss der Außenwelt zu schützen. Die "Wilden" müssen in ihrer Wildheit bewahrt werden. Afrika, das ist für Gardi ein naturbelassenes Paradies, ein schwarzes Arkadien. Und eine reine Konstruktion. Gardi inszeniert alles so, wie es ihm passt - in einer von ihm gestellten Heiratsszene beharrt er darauf, dass für die Braut acht statt drei Ziegen eingetauscht werden, weil ihm das imposanter erscheint. Was genau er filmt, interessiert ihn niemals wirklich - er klatscht einfach im Voiceover irgendeine Erklärung über die Bilder. So macht Hedingers Film deutlich, dass Gardis Material ein reiner "afrikanischer Spiegel" ist - der keinerlei Auskunft über Afrika gibt, sondern ausschließlich über die exotischen Sehnsüchte und Projektionen des Westens.

Die unbändige Energie der Performances macht Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Ein anderer Film, der ebenfalls im Forum läuft, fühlt sich wie ein expliziter Gegenentwurf dazu an. Zwar wird auch hier ein Blick von Europa nach Afrika geworfen, allerdings aus der Perspektive eines emigrierten Künstlers. Der Titel, "Mother, I Am Suffocating. This is My Last Film About You", heißt auf Deutsch so viel wie: "Mutter, ich ersticke. Dies ist mein letzter Film über dich." Gemacht hat ihn Lemohang Jeremiah Mosese, der aus dem Königreich Lesotho in Südafrika stammt und heute unter anderem in Berlin lebt.

In poetischem Schwarz-Weiß wechseln Aufnahmen einer Frau, die ein Kreuz über die Straßen Lesothos schleppt, mit Landschaften und Straßenszenen. Im Off verliest eine Stimme einen Brief - eine klagende Abrechnung mit der "Mutter", offensichtlich das Heimatland des Regisseurs. Von Krieg ist die Rede, von moderner Sklaverei. Es ist die Stimme einer Person, die längst in Europa zu Hause ist, in Kreuzberg wohnt - gleich kommen die Freunde vorbei, um gemeinsam auszugehen. "Ich sehe dich durch die Augen der Weißen", gesteht die Stimme. Und doch fällt am Ende dieser starke Satz: "Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich dich."

War bei Gardi Afrika eine Projektionsfläche für ein verkitschtes Paradies, so entdeckt die Hauptfigur bei Mosese in ihrem Spiegelbild nichts als Gewalt, Chaos und Krieg. Ihre Herkunft, ihre Identität schleppt sie klagend mit sich herum - so wie die Frau das Kreuz durch die Straßen Lesothos. Um diese herum tanzt allerdings eine Transfrau mit Engelsflügeln - bei aller Bitterkeit ein Zeichen des Spiels, der Hoffnung, der Freude. Die findet man auch in der Dokumentation "Système K" des Franzosen Renaud Barret, die im Panorama läuft. Es geht um Straßenkünstler in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.

Der Hintergrund ist auch hier das Elend. Der Kongo gehört zu den reichsten Ländern der Erde - gemessen an seinen Bodenschätzen. Dies führt aber zu Bürgerkriegskonflikten im Osten. Währenddessen reißen sich westliche Konzerne und Länder die Rohstoffe unter den Nagel - die Bevölkerung hat nicht einmal fließendes Wasser. Einer der Künstler im Film beschreibt den Kreislauf wie folgt: Man nimmt dem Kongo die Materialien weg, verwertet sie im Ausland und entsorgt den Müll wieder hier. Die Reaktion der Künstler besteht jedoch darin, den Müll zu recyceln, um daraus Kunst zu machen. Einer baut Musikinstrumente aus alten Festplatten und Plastikflaschen, ein anderer Skulpturen aus Kronkorken und Patronenhülsen. Ein aus Macheten gebautes Haus erregt in den Straßen großes Aufsehen, wie ein Mahnmal steht es da, das dazu auffordert, die andauernde Bürgerkriegsgewalt in etwas Kreatives umzuwandeln -Erschaffen statt Zerstören. Die Performances sind radikal, oft auch blutig - die Künstler wälzen sich gefesselt durch den Staub, lassen sich mit heißem Kerzenwachs übergießen oder in einer Badewanne durch die Straßen schieben, während Ziegenblut am Körper herabrinnt. Aber ihre unbändige Energie macht stets dennoch Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Hedinger arbeitet exotistische westliche Darstellungen auf, Mosese beklagt das Elend der Gegenwart. Und Barret gibt heutigen afrikanischen Künstlern eine Plattform, deren Kunst ein Akt des politischen Widerstands gegen Ausbeutung und Gewalt ist. Sollte es in sechzig Jahren einen Film auf der Berlinale geben, der diese schönen Filme von heute wieder aufgreift, dann werden die Festivalbesucher der Zukunft sicher gnädiger auf sie zurückblicken als die Besucher des Jahres 2019 auf "Mandara" von René Gardi.

© SZ vom 14.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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