Berlinale-Gewinner "Synonymes" im Kino:Wir zerfleischen ihre Hunde

Filmstill "Synonymes"

Yoav (Tom Mercier) bleibt in Paris hängen, was nicht nur, aber auch mit Caroline (Louise Chevillotte) zu tun hat.

(Foto: Grandfilm)

Ein Israeli flüchtet nach Paris, um eine neue Identität anzunehmen: Für seine Tragikomödie "Synonymes" wurde der Regisseur Nadav Lapid auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

Von Philipp Stadelmaier

Die Kamera prescht über regennasses Straßenpflaster. Ganz stur, den Blick auf den Boden gerichtet, ohne nach links und rechts zu schauen. Dann ein kurzer Schwenk nach oben: aha, der Rand eines Brunnens. Offenbar sind wir in Paris. Dann geht die Kamera weiter nach oben, auf den jungen Mann zu, der läuft, fast militärisch, die Arme schwingen schnell am Körper. Er sieht aus, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als zu laufen. Auf dem Rücken hat er einen Rucksack. Dann ein Schnitt. Der Mann springt das Treppenhaus eines pompösen Haussmann-Gebäudes hinauf. Auf einmal ist da kein stures Vorwärtsdrängen mehr, sondern Eleganz. Oben angelangt, fischt er einen Schlüssel unter der Matte hervor und betritt eine riesige leere Altbauwohnung. Schließlich ist es Nacht, der Mann hüpft im Schlafsack durch die Wohnung, lässt ihn fallen und springt unter die Dusche.

Der Film "Synonymes" des israelischen Regisseurs Nadav Lapid, mit dem er auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewann, beginnt mit dieser wunderbar rhythmisierten Ouvertüre und zeichnet mit ein paar flinken Strichen ein Porträt seiner Hauptfigur. Noch bevor wir etwas über ihn wissen, wissen wir, wie der Mann, gespielt von Tom Mercier, sich bewegt. Und da das Kino die Kunst der Bewegung ist, machen diese ersten paar Einstellungen deutlich, dass hier ein Autorenfilmer am Werk ist, der die Mittel des Kinos kennt, mit ihnen denkt und fühlt, Kamera, Montage, Rhythmus.

Der Mann heißt Yoav. So, wie er sich beim Schlafsack-Hüpfen bewegt, denkt man an einen Komiker, der seinen ganzen Körper einsetzt. Als Yoav nach dem Duschen splitternackt zurück ins Vorzimmer kommt, gibt es den nächsten Gag: Der Schlafsack ist weg, seine anderen Sachen ebenso. Jemand muss alles geklaut haben. Am nächsten Morgen finden ihn zwei andere Bewohner des Hauses, Emile (Quentin Dolmaire) und Caroline (Louise Chevillotte), halb erfroren unter der Dusche. Sie tragen ihn in ihre Wohnung und ihr Bett, tauen ihn auf und nehmen ihn in ihre Obhut.

Yoav erzählt ihnen, er habe Israel verlassen, um in Paris zu leben. Dort hat Regisseur Lapid selbst nach dem Armeedienst Literaturwissenschaft studiert. Danach ging er zum Filmstudium nach Tel Aviv zurück. Schon in seinem zweiten Langfilm "Ich habe ein Gedicht" von 2014 ging es um einen Yoav, allerdings um einen sehr viel jüngeren: um ein Kindergartenkind, das für sein Alter geniale Gedichte schreibt. In seinem ersten außerhalb von Israel gedrehten Film schickt Lapid diesen anderen Yoav nach Paris, wobei es wieder um ein Verhältnis zur Sprache geht: Yoav will aufhören, Hebräisch zu sprechen, die Muttersprache ablegen, nur noch Französisch reden.

Yoav benutzt das Gewehr als Instrument und schießt ein Chanson von Édith Piaf

Später steht er nachts auf einer Brücke und erklärt Emile die Gründe seiner Emigration. Israel, so Yoav, sei "böse, obszön, ignorant, idiotisch, schmutzig, derb, abscheulich, niederträchtig", und vieles mehr. Kein Land, so antwortet Emile, ist all das auf einmal. Da schwenkt die Kamera vom Fluss hoch auf die beiden Männer. "Die Seine ist ein Test, den die Stadt dir auferlegt", sagt Yoav. Die aneinandergereihten Adjektive aus seinem Mund sind nicht einfach (nur) politische Aussagen, es handelt sich um einen selbstauferlegten Test, wie im Sprachunterricht: Yoav will sich in der fremden Sprache üben, seinen Wortschatz erweitern. Später, wieder auf einer Brücke, macht ihm ein Kollege des israelischen Sicherheitsdienstes, bei dem Yoav anheuert, deutlich, dass Juden Frankreich verlassen und in Israel Zuflucht suchen müssten. Europa sei ein Hornissennest, voller Terror und Antisemitismus. Aber Yoav bleibt in seiner Welt aus Sprache, in der er sich eine neue Identität, eine neue Biografie, eine neue Geschichte verleihen will: "Ich habe Frankreich nie verlassen", sagt er, "bis auf meine Zeit in Israel."

Auf der einen Seite zeigt Lapid in Paris arbeitende israelische Sicherheitsbeamte, kräftige, vom Kampf besessene Männer, die zum Spaß selbst im Büro übereinander herfallen und Wettkämpfe gegen Neonazis organisieren - "wir zerfleischen ihre Hunde". Dem gegenüber steht Yoav, der Emile und Caroline Geschichten erzählt. Geschichten von Krieg und Gewalt, echte und erfundene.

Sein Großvater kämpfte für die Unabhängigkeit des jüdischen Staates, zwei seiner Freunde wurden von den Briten zum Tode verurteilt; am Vorabend der Exekution pressten sie eine Granate zwischen sich und sprengten sich in die Luft. Yoav erzählt auch vom eigenen Militärdienst, in einem Fort in den Bergen. Hier lernte er "auf dem MG" zu spielen, ein Maschinengewehr im Takt von Pink Floyd oder Frank Sinatra abzufeuern. In einer Rückblende fordert er seinen Kommandanten heraus: Zu welchem Lied knattert er auf die Holztafel, die einen "arabischen Terroristen" darstellen soll? Der Kommandant kommt nicht drauf. Es handelt sich um ein Chanson von Édith Piaf, "Je ne veux pas travailler": Ich will nicht arbeiten.

Verweigerung und Niederlage, das sind Yoavs Themen. Seine Lieblingsgeschichte ist die von Homers Hektor, den Achilleus erst um die Mauern von Troja jagt und dann tötet. Es ist die Geschichte von jemandem, der davonläuft, wie er. Erst später ließ Achilleus sich überreden, Hektors Leichnam den Trojanern zurückzugeben.

Man kann Leute filmen, die andere Leute oder Dinge begehren; spannender und komischer ist es, Leute zu filmen, die sich in ihrem Begehren irren, ein Begehren haben, das gar nicht erst funktioniert. Die verrückte Freude, die einen bei Lapids Film ergreift, kommt daher, dass er jeder Befriedigung konsequent entgegenarbeitet.

So stur, wie Yoav am Anfang durch die Pariser Straßen strebt, so stur verfolgt er das Unmögliche: den Verlust seiner Muttersprache. Lapids Blick bleibt dabei satirisch und unsentimental. Er zeigt die Verbissenheit von jemandem, der nach und nach zum störenden Fremdkörper wird, von niemandem mehr gewollt, und am Ende nichts weiter tun kann, als seinen Körper wieder und wieder gegen eine Tür zu werfen, die nicht nachgeben will und ihn immerfort auf ihn selbst zurückwirft.

Synonymes, Frankreich / Israel / Deutschland, 2019. Regie: Nadav Lapid. Buch: Lapid, Haim Lapid. Kamera: Shai Goldman. Mit Tom Mercier, Quentin Dolmaire, Louise Chevillotte. Grandfilm, 123 Min.

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