Berlinale:Ein Preis fürs Todesritual

In der Gesamtheit der Bären-Entscheidungen erkennt man den Versuch, eine Balance zu finden. Mit dem Hauptpreis für "Tropa de Elite" will die Berlinale-Jury des Jahrgangs 2008 eindeutig Filmemacher stärken, die sich auf die absolute Gegenwart einlassen und sich auf heikles Terrain begeben.

Tobias Kniebe

Als Jurypräsident Costa-Gavras am Samstagabend auf der Bühne des Berlinale-Palasts den Gewinner des Goldenen Bären bekanntgab, kam wilder Jubel aus der Ecke der Sieger. Im Rest des Saals herrschte Stille, dann kam verzagter Applaus, unterbrochen von vereinzelten Buh-Rufen.

Damit hatte keiner gerechnet: Dass ausgerechnet "Tropa de elite - Elitetruppe", der umstrittene Wettbewerbsbeitrag aus Brasilien, am Ende mit dem Hauptpreis abmarschieren würde. Und man muss sich nur die Schlussszene des Films vor Augen halten, um zu verstehen, warum das auch eine Provokation ist. Da sucht die berühmt-berüchtigte Spezialeinheit für Bandenbekämpfung in Rio de Janeiro - Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE) genannt - einen neuen Gruppenführer.

Der erfahrene Capitão hat sich einen Nachfolger ausgeguckt, aber er ist nicht sicher, ob der auch das Zeug dazu hat, in seinem Job zu bestehen. Also unterzieht er ihn einer letzten Prüfung: Ein gerade verhafteter Drogenboss, der für den Tod eines BOPE-Kameraden verantwortlich ist, muss erschossen werden.

Aus kürzester Distanz, mit der Schrotflinte ins Gesicht. Der Neuling, am Anfang des Films noch ein idealistischer Jurastudent, schwitzt, zögert, umklammert den Abzug. Dann wird das Bild schwarz. Im Off kracht der Schuss.

Kritische Deutlichkeit oder brutaler Effekt?

Man kann natürlich sagen, hier werde kritisch die ganze Brutalität gezeigt, mit denen diese paramilitärische Polizeiorganisation in den Favelas von Rio operiert - diese Linie vertrat zum Beispiel der Regisseur José Padilha in all seinen Interviews auf der Berlinale.

Im Kontext des Films aber, nach den Regeln, mit denen das Kino seine Geschichten zum Abschluss bringt, stimmt das nur halb: Der Ausbilder selbst ist es, der mit seiner Erzählstimme das ganze Geschehen deutet und einordnet, erklärt und kommentiert. Nach seinen Regeln wird hier eine Initiation vollzogen, die einen jungen Polizisten aus der Zivilisation verabschiedet.

Die Erschießung des Drogendealers ist ein Ritualmord, sie markiert die Aufnahme in einen Geheimbund, der jenseits von Recht und Gesetz operiert - aber eben auch jenseits der Korruption, die alle Teile der brasilianischen Gesellschaft lähmt.

Hier wirkt Selbstjustiz-Kino nach der Formel "Ein Mann sieht rot" - aber zugleich wird auch ein düsteres Schlaflied für eine zerrüttete Gesellschaft gesungen. Solange es solche Männer gibt, wispert "Tropa de elite", ist Brasilien nicht ganz verloren.

Und die Mehrheit der fünfzehn Millionen Brasilianer, die den Film inzwischen im Kino oder als Raubkopie gesehen haben, ist dieser Suggestion wohl willig gefolgt. "Den Capitão Nascimento holen" ist im Land ein geflügeltes Wort geworden - wann immer ein Problem zu groß erscheint, um es mit normalen Mitteln zu lösen.

Was aber bedeutet "Tropa de elite" für einen Alt-Achtundsechziger wie Constantin Costa-Gavras, dessen Filme sich immer ganz sicher waren, politisch auf der korrekten, der fortschrittlichen (und damit auf der linken Seite) zu stehen? Und was mögen sensible Jurymitglieder wie die Schauspielerin Diane Kruger oder der legendäre Ton- und Schnittkünstler Walter Murch darin gesehen haben?

Der Versuch einer Balance

In der Gesamtheit der Bären-Entscheidungen erkennt man den Versuch, eine Balance zu finden. "There Will Be Blood", Paul Thomas Andersons cineastische Tiefenbohrung in der Pionierzeit Amerikas, der von Anfang an als hoher Favorit galt und Ende der Woche auch bei den Oscars abräumen könnte, wurde mit zwei Silbernen Bären bedacht - für die Regie und für die Musik von Radiohead-Soundmaler Jonny Greenwood.

Berlinale-Gold hatte Anderson bereits im Jahr 2000 für seinen Film Magnolia bekommen, das mag ein Grund für diese Entscheidung gewesen sein - unter anderen Umständen wäre man wohl kaum am Hauptpreis vorbeigekommen. Das Kino der klassisch-politischen Aufklärung wiederum wurde mit dem Großen Preis der Jury bedacht: Errol Morris' "Standard Operating Procedure", der erstmals alle verfügbaren Täter befragt, was sie sich bei der Inszenierung ihrer Folterbilder im Abu-Ghraib-Gefängnis eigentlich gedacht haben, ist damit zugleich der erste bärengekrönte Dokumentarfilm überhaupt.

Ein Preis fürs Todesritual

Der Silberne Bär für das beste Drehbuch, in diesem Jahr erstmals vergeben, ging an den Chinesen Wang Xiaoshuai für "Zou You - In Love We Trust". Nicht zu Unrecht, dieses Melodram um ein krebskrankes Kind ist zurückhaltend und präzise geschrieben - dadurch allerdings, dass der neue Preis an einen klassischen Autorenfilmer geht, der seine Stoffe immer selbst inszeniert, stärkt er nicht gerade die Idee einer unabhängigen Würdigung der Autoren.

Ganz dem Geschmack des Publikums folgt wiederum der silberne Schauspiel-Bär für Sally Hawkins. Die fast unbekannte Engländerin, bisher nur in Nebenrollen bei Mike Leigh und Woody Allen in Erscheinung getreten, bekam mit Leighs "Happy-Go-Lucky" einen ganzen Film, der vollständig um ihre sonnige Clown-Persönlichkeit herum gebaut ist - und eroberte damit die Herzen.

Die eher stille, philosophische Seite des Weltkinos wurde ebenfalls mit zwei Preisen bedacht: Reza Naji, ein verwittertes Unikat des persischen Films, bekam den Darsteller-Bären für seine Rolle als gestresster Familienvater mit Sehnsucht nach Unabhängigkeit in "Avaze Gonjeshk-Ha - Der Gesang der Spatzen" von Majid Majidi, während der junge mexikanische Fernando Eimbcke für seinen Erstlingsfilm "Lake Tahoe" mit einem Preis für "besondere Innovation" gewürdigt wurde.

Was allerdings besonders innovativ daran sein soll, die meditativen, seit Jahrzehnten erprobten Beobachtungstechniken des Kunst- und Experimentalfilms noch einmal in einer mexikanischen Kleinstadt durchzuexerzieren, blieb doch etwas unklar.

Markierung einer Wandlung

Erst in der Gesamtschau des Kinos, zu der sich diese Berlinale am Ende verdichtet, wird der tiefere Sinn der Bären-Vergabe klar. Die still verzweifelnden oder noch hoffenden, ganz auf Zeitlosigkeit und Innerlichkeit fixierten Filme des Festivals, die den Wettbewerb eigentlich dominiert haben, hat die Jury ignoriert, von Doris Dörries "Kirschblüten" und Erick Zoncas "Julia" bis "Il y a longtemps que je t'aime" von Philippe Claudel.

So gelungen sie im einzelnen vielleicht waren - insgesamt stehen sie für ein eher weltabgewandtes Kino, das sich in seinen stillen Nischen häuslich eingerichtet hat und seit Jahren auch in Cannes und Venedig das Geschehen bestimmt. Der Hauptpreis für "Tropa de Elite" markiert eine Abkehr von dieser Tradition. Die Berlinale-Jury des Jahrgangs 2008 will Filmemacher eindeutig stärken, die sich auf die absolute Gegenwart einlassen, sich auf heikles Terrain begeben und rohe Emotionen wecken, im Zweifel sogar eher die falschen als die richtigen.

Hauptsache, es bewegt sich was, die Zuschauer reagieren und diskutieren wieder, das Kino verteidigt seinen Anspruch als gesellschaftsbewegende Kraft. In der Wahl der künstlerischen Mittel, das ist die Botschaft dieser Jury, darf man dabei nicht allzu zimperlich sein - und in diesem Sinn gab es am Ende dann doch einen Schulterschluss zwischen Costa-Gavras und seinem Hauptpreisträger, zwischen den alten Polit-Aktivisten und den neuen. "Sie sind ein Held für alle Filmemacher Lateinamerikas", sagte "Tropa de elite"-Regisseur José Padilha auf der Bühne zum Juryvorsitzenden - und reckte kämpferisch seinen Goldbären in die Luft.

Und sein Produzent Marcos Prado dankte für Unterstützung bei einem großen Vorhaben, das über das Kino dann doch weit hinausgeht: "Wir wollen Brasilien verändern!"

Dass dieser Anspruch wieder ganz ungebrochen formuliert werden kann, von Filmemachern, die schon bewiesen haben, dass sie in den Diskurs ihres Landes machtvoll eingreifen; dass das fragliche Werk dann trotzdem nicht bieder und banal, sondern so verwirrend, verstörend und herausfordernd ist, wie Kino eben sein kann, wenn es in bisher uneroberte Gebiete vorstößt - das ist am Ende doch, Buh-Rufer hin, Bedenken her, eine richtig gute Nachricht.

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