Süddeutsche Zeitung

Berlinale:Ziemlich hohe Erwartungen

  • Am Donnerstagabend beginnt die erste Berlinale unter der Führung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek.
  • Das Festival kann Erneuerung gut gebrauchen: In den fast zwanzig Jahren, die Dieter Kosslick es leitete, wuchs die Berlinale zu einem gigantischen Film-Markt an; aber für den besten Wettbewerb des Jahres war sie nicht berühmt.

Von Susan Vahabzadeh

Die 70. Berlinale wird für Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek die erste sein, zumindest als Berlinale-Leitung. Im vergangenen Jahr haben die beiden zusammen den Posten von Dieter Kosslick übernommen, am Donnerstagabend beginnt nun das erste Festival unter ihrer gemeinsamen Führung. Die Arbeitsteilung ist klar: Mariette Rissenbeek, ehemalige Produzentin und zuletzt bei der deutschen Exportorganisation German Films, ist für die Verwaltung zuständig; Chatrian, der vorher künstlerischer Leiter des Festivals in Locarno war, konzentriert sich auf die Filme selbst.

Für Chatrian wird es nicht nur kühler als beim sommerlichen Filmfest in Locarno, wo jeden Abend großes Open-Air-Kino auf der Piazza Grande stattfindet. Er wird auch auf ziemlich hohe Erwartungen treffen - alles soll doch ganz anders werden, wenn jetzt der Cineast Chatrian entscheidet, was im Wettbewerb zu sehen ist. Denn die Berlinale ist zwar in den fast zwanzig Jahren, die Dieter Kosslick sie leitete, zu einem gigantischen Filmmarkt angewachsen; aber für den besten Wettbewerb des Jahres war sie nicht berühmt.

Der Eröffnungsfilm, "My Salinger Year", klingt vielversprechend, aber vorher weiß man ja nie: Margaret Qualley und Sigourney Weaver spielen da mit, und es geht um eine junge Frau, die in einer New Yorker Agentur einen Job annimmt. Sie soll Fanbriefe beantworten - einer der Klienten der Agenturen ist der Schriftsteller J. D. Salinger, ein scheuer Kauz, der selbst ganz bestimmt keine Fanpost gelesen hat.

Einige alte Bekannte werden jedenfalls in den kommenden zehn Tagen in der Konkurrenz um den Goldenen Bären dabei sein. Die Britin Sally Potter gehört seit einigen Jahren zu den Stammregisseuren der Berlinale, diesmal zeigt sie "The Roads Not Taken", mit Javier Bardem und Salma Hayek. Die Belgier Benoît Delépine und Gustave Kervern, mit "Effacer l'historique" im Wettbewerb, hatten mit "Mammuth" vor zehn Jahren in Berlin ihren ersten großen Aufritt. Und Hong San-soo, ursprünglich eine Entdeckung des Festivals in Cannes, war schon mit drei Filmen in Berlin dabei - gehörte aber in den letzten Jahren auch zu den Stammgästen in Locarno, wo er auch schon einen Goldenen Leoparden gewonnen hat.

Die Amerikanerin Kelly Reichardt aber, eine der eigenwilligsten Filmemacherinnen überhaupt, darf zwar als frühe Berlinale-Entdeckung gelten - ihr Debütfilm "River of Grass" lief 1994 im Panorama. Danach aber wurde sie eher in Cannes und in Venedig gefeiert - mit "First Cow" kehrt sie nun zurück und konkurriert erstmals um den Goldenen Bären. Auf eine Filmemacherin zu setzen, die so sehr gegen den Strom schwimmt, lässt schon darauf hoffen, dass der Wettbewerb in diesem Jahr eine eigene Handschrift entwickelt. Und dann gibt es ja noch die neue Reihe "Encounters", in der zwar einige Veteranen neue Filme zeigen - beispielsweise Heinz Emigholz und Alexander Kluge - bei der aber die Klammer, die das alles zusammenhalten soll, erst so richtig klar werden muss. Es geht jedenfalls um die Schnittstelle zwischen Spielfilm und Dokument.

Ein Bärengewinner, der auch bei den Oscars siegt und Publikum anlockt? Leider ein Sonderfall

Chatrian hatte in Locarno schon lange eine Reihe kuratiert, als er 2012 dort Festivalchef wurde. Er hat im Vorfeld der 70. Berlinale immer wieder betont, dass er einen Brückenschlag im Sinn hat: Die Berlinale ist im Gegensatz zur Konkurrenz in Venedig und Cannes ein echtes Publikumsfestival, und Chatrian will die Zuschauer aus der "Wohlfühlzone herauslocken", wie er es formuliert hat. Das soll heißen: Es muss möglich sein, dass Filme eine kleine Herausforderung für ihr Publikum sind, die auch angenommen wird. Die Zeiten sind für diese Art von Kino tatsächlich nicht die besten - Filmverleiher beklagen schon seit einigen Jahren, dass im normalen Kinobetrieb alles, in dem keiner Superkräfte hat, nur noch halb so viele Zuschauer anlockt wie vor zwanzig Jahren. Deswegen werden Festivals aber nicht unwichtiger. Ganz im Gegenteil: Sie sind dann die letzte Bastion, um die Diversität des Kinos zu verteidigen.

Ein paar grundsätzliche Gegebenheiten lassen sich nicht ändern, egal, wer die Berlinale leitet: Sie ist für amerikanisches Kino, das viel Publikum anzieht, schlecht im Jahr positioniert - die kleinen, unabhängigen Produktionen laufen nur wenige Wochen vorher in Sundance, die großen Filme, für die es Oscar-Hoffnungen gibt, halten die Studios oft zurück bis zu den Filmfestspielen in Venedig, weil kurz danach ohnehin die Saison der Preisverleihungen in den USA beginnt. Und der Februar in Berlin bleibt der Februar in Berlin - selbst wenn das Wetter keine besonderen Kapriolen wie Stürme, Eis und Schnee zu bieten hat, ein Outdoor-Festival wird die Berlinale nie.

Auf der Piazza Grande hat der Italiener Chatrian jedenfalls, zwischen Englisch, Französisch und Italienisch lässig hin und her wechselnd, jeden Abend unter Beweis stellen dürfen, dass er auf einer Bühne durchaus unterhaltsam sein kann; auch das muss ein Festivalchef können. Die Einführung in die Open-Air-Galas ist eine relativ langwierige Geschichte, denn bevor da der Film verhandelt wird, den es anschließend zu sehen gibt, werden fast täglich Nebenpreise verliehen, und der Festivaldirektor hat einiges zu tun.

Die aufs ganze Festival verteilte Ehrungsinflation muss man aus Locarno nicht zwingend importieren. Vor allem in einem Punkt aber ist viel Raum für Veränderung - in der Wahrnehmung. Wie attraktiv erscheint internationalen Filmemachern das Festival und gilt es in der Branche als ein Ort, an dem ein Film eine wundersame Reise zu ungeahnten Erfolgen beginnen kann? Asghar Farhardis "Nader und Simin - Eine Trennung" war für die Berlinale der letzten Jahre ein Sonderfall, erst gab es den Goldenen Bären, dann war der Film im Kino ein Erfolg, und dann gewann er auch noch einen Oscar als bester fremdsprachiger Film. Früher waren Berlinale-Sieger, die sich auch jenseits des Festivals als Gewinner erwiesen, eher die Regel, von Sidney Lumets "Zwölf Geschworene" (1957) über Ang Lees "Hochzeitsbankett" (1993) bis "Central Station" (1998) von Walter Salles. Nun waren früher auch viele Berlinale-Sieger englischsprachige Filme, wie "Rain Man" und "Sinn und Sinnlichkeit" und "Magnolia", die tun sich im internationalen Kino leichter, haben große Stars - brauchen eigentlich kein Festival. Ein Goldener Bär ist längst keine Garantie mehr für einen Achtungserfolg an den Kinokassen. Da noch einmal das Ruder herumzureißen, wird gar nicht so einfach - weil es dabei ja gar nicht nur um die Filmauswahl des Festivals geht, die Gesamtsituation des Kinos spielt schon auch eine Rolle.

Vielleicht wird bei dieser Berlinale ja alles neu, so neu und ungewohnt, dass man sie kaum wiedererkennt. Wird man am Ende ein Visum brauchen, um in eine Vorführung von "DAU.Natasha" zu kommen, einem Kino-Ableger des Kunstprojekts DAU über Totalitarismus, der bei der Berlinale im Wettbewerb erstmals gezeigt wird? Als Ilya Khrzhanovskys "DAU" mit einiger Verzögerung im vergangenen Jahr in Paris erstmals Publikumskontakt hatte, hat eine Eintrittskarte jedenfalls nicht gereicht.

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SZ vom 20.02.2020/luch
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