Berlinale 2021:Warten auf das Flirren

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Läuft im Berlinale-Wettbewerb, aber zunächst nur für Jury und Kritiker: Saskia Rosendahl und Tom Schilling in Dominik Grafs "Fabian oder Der Gang vor die Hunde". (Foto: Hanno Lentz/Lupa Film/Berlinale)

Die Branche darf streamen, das Publikum die Filme erst im Sommer sehen - wenn vielleicht auch die Stars kommen. Die Berlinale ist in diesem Jahr ein zerrissenes Festival.

Von Kathleen Hildebrand

Was ist ein Filmfestival? Ist es der rote Teppich, der Glamour? Ein Marktplatz für neue Filme? Ein Wettbewerb, der am Ende Aufmerksamkeit für die Sieger schafft? Oder ist es eine Gelegenheit für das Publikum zu sehen, was es im normalen Kinoprogramm nicht gezeigt bekommt, ein Blick in den Maschinenraum des Filmmarkts?

Die Antwort wäre natürlich: Alles davon. Aber wegen der Corona-Pandemie ist in Berlin in diesem Jahr alles anders. Die Leiter der Berlinale, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, haben nach einigem Hadern entschieden, dass sie ihr Festival 2021 auseinanderschneiden werden wie die Fasern eines Muskels, es ist eine Operation am lebendigen Leib. Am Montag beginnt ein fünftägiges Digital-Festival für die Branche und Journalisten, später, im Sommer, darf das Publikum gucken. Funktioniert das eine ohne das andere? "Unsere Lösung ist nicht optimal", sagt Carlo Chatrian, "aber es ist die bestmögliche unter den gegebenen Umständen."

Neben den Journalisten richten sich die nächsten fünf Streamingtage an den kaufmännischen Teil der Branche. Auf dem EFM, dem European Film Market, können Verkäufer ihre neuen Filme zeigen und Einkäufer sie sehen, auf dass ein Deal zustande kommt und die frische Ware bald ihren Weg in die Kinos findet, wann immer diese wieder öffnen. Oder wenigstens auf DVD oder Video-on-Demand zu sehen ist.

Für diese Händler ist die Abwesenheit von Publikum nicht so egal, wie man meinen könnte: Es macht einen Unterschied, ob ein Film tosenden Applaus, Pfiffe oder betretenes Schweigen erntet. Den "Buzz", dieses erste, schwer zu steuernde Flirren der Aufmerksamkeit, bekommt man nicht, wenn Filme still zu Hause in Jogginghose gesichtet werden.

Der Slot der Berlinale ist nun einmal der Vorfrühling

Verschieben ließ sich der Filmmarkt aber auch nicht gut: Das Filmgeschäft hat seine Jahreszeiten, und der Slot der Berlinale ist nun einmal der Vorfrühling. Sie später stattfinden zu lassen, hätte bedeutet, mit den anderen Marktplätzen zu kollidieren - mit Cannes oder dem American Film Market. Und auch wenn die Kauflust nach einem Jahr Corona gerade gedämpft sein könnte, weil niemand 2020 viel Geld verdient hat und aufgeschobene Filme sich im Programm der Verleihe stauen: Streaminganbieter und Kinoverleihe in Ländern mit geöffneten Kinos, hat EFM-Chef Dennis Ruh gerade dem Branchenmagazin Variety gesagt, hätten durchaus einen "gewaltigen Bedarf" an neuen Filmen.

Den Buzz können in diesem Jahr nur die Kritiker - und die Jury - liefern. Auch der Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Bären findet in den nächsten Tagen statt. Die Jury, die sich aus Regisseurinnen und Regisseuren von Gewinnerfilmen der vergangenen Jahre zusammensetzt, sichtet in Berlin. In richtigen Kinos. Am Freitag wird sie ihre Sieger verkünden, die Presse wird schreiben, ob das eine gute oder nicht so gute Wahl war - aber vorangestellt bleibt der Hinweis ans Publikum: Sehen könnt ihr die ausgezeichneten Filme, und auch die, die nicht gewonnen haben, erst im Sommer.

Für Journalisten hat die digitale Version der Berlinale einen Vorteil: Sie müssen diesmal nicht von Vorstellung zu Vorstellung hetzen, um möglichst viele und möglichst die wichtigsten Filme zu sehen. Sondern sie sitzen, wie seit Corona dauernd und immerzu, zu Hause und dürfen knapp 130 Filme streamen, die in den verschiedenen Berlinale-Sektionen laufen. In normalen Jahren gibt es mindestens doppelt so viele. Das reduzierte Programm rührt auch daher, dass das Festival lange dafür geplant wurde, unter Pandemie-Bedingungen echte physische Kino-Vorführungen zu veranstalten. Weil das nicht mit voll besetzten Sälen möglich gewesen wäre, gibt es weniger Filme, die man dann öfter für jeweils weniger Menschen gezeigt hätte.

Damit es für das Filmeschauen trotz Streaming irgendeine Struktur gibt - und das, was Journalisten am dringendsten brauchen, nämlich Deadlines - erzeugt die Berlinale trotzdem einen gewissen Zeitdruck: Jeden Tag der Woche kann man eine bestimmte Anzahl von Filmen für genau 24 Stunden ansehen. Dann ist Schluss. Und zwar wirklich: Auch wer einen Film schon zu zwei Dritteln geguckt hat, wird um Punkt sieben Uhr morgens unterbrochen. Wenn da noch nicht klar ist, ob das Mädchen den Jungen kriegt oder die Zombie-Apokalypse noch abgewendet wird: Pech gehabt. Ganz so gemütlich wird es also doch nicht.

Sein Film gehöre nun einmal auf die Leinwand, findet ein Produzent

Außerdem haben sich nicht alle Filmemacher dazu entschlossen, ihr Werk auf die Festival-Server zu stellen. Zwei prominente deutsche Wettbewerbsbeiträge, "Fabian" von Dominik Graf und Daniel Brühls Regiedebüt "Nebenan", kann man als Journalist nicht streamen. Für sie wurden stattdessen extra Pressevorführungen in einigen Großstädten organisiert. Sicherheitsbedenken? "Nein", sagt Felix von Boehm, Produzent von "Fabian", "sondern Genussbedenken". Sein Film gehöre nun mal auf die Leinwand, und so sollten ihn die Kritiker auch sehen. Daniel Brühl sieht das genauso.

Die mit Weltstars besetzten Hollywoodfilme, die der Berlinale ihren dringend benötigten Glanz verleihen sollen, werden der Presse dagegen noch gar nicht gezeigt: Die Komödie "French Exit" mit Michelle Pfeiffer und die Buchbranchen-Komödie "Best Sellers" mit Michael Caine werden erst bei der Sommer-Berlinale zu sehen sein - dann gleich auch für das Publikum. Das Guantanamo-Justizdrama "The Mauritanian" mit Jodie Foster wiederum sehen in den nächsten Tagen nur Kritiker, die nicht aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien, Frankreich oder den Niederlanden kommen - Geoblocking macht's möglich.

Das Streamingprogramm beginnt an diesem Montag stattdessen mit drei Wettbewerbsbeiträgen: "Introduction" vom südkoreanischen Regisseur Hong Sangsoo, "Memory Box" über die Erinnerung an den libanesischen Bürgerkrieg von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige und "Ich bin dein Mensch" von Maria Schrader über einen Roboter, der sich durch künstliche Intelligenz in den perfekten Lebenspartner verwandeln soll. Den Roboter spielt Dan Stevens, bekannt als romantischer Held in der britischen Adelsserie "Downton Abbey". Mit drei Filmen ist der deutsche Film dieses Mal außergewöhnlich stark im Wettbewerb vertreten.

Dass die Berlinale die Berliner, diese treuen, begeisterten Kinogänger, nicht außen vor lässt, ist eine sympathische und dem wichtigsten Publikumsfestival der Welt angemessene Geste. Bleibt zu hoffen, dass die Kinos im Juni tatsächlich wieder besetzt werden dürfen, zumindest teilweise. Und was das Publikum aber bei aller Filmliebe immer auch anzieht, sind Stars. Die Berlinale hofft, dass Pfeiffer, Foster, Caine und andere im Sommer kommen werden. Auszeichnungen spielen dabei keine Rolle, denn ihre Filme laufen sowieso außerhalb des Wettbewerbs. Sie kommen, um ihre Kinostarts zu bewerben. Das werden sie im Sommer vielleicht noch lieber tun. Die meisten Roben erfordern sonst im Berliner Februar einige Kältetoleranz.

Was der Sommer-Berlinale fehlen wird, ist deshalb weniger der Glamour als die Spannung eines laufenden Filmwettbewerbs. Denn die Sieger warten dann ja seit März, auch wenn sie ihre Bären erst im Sommer feierlich bekommen werden. Das hat immerhin einen entscheidenden Vorteil: Berlin ist im Sommer eine ungleich schönere Stadt.

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