Süddeutsche Zeitung

Berlinale 2011: "Khodorkowsky":Hart und emotional

Seit sieben Jahren sitzt Michail Chodorkowskij in Haft. Ist er schuldig, oder hat er in einem archaischen Männerkampf den Kürzeren gezogen? Der Dokumentarfilm "Khodorkowsky" feiert in Berlin Weltpremiere.

T. Schmitz

Die Frau steht unschlüssig auf der Premierenparty in den Berliner Sophiensälen. Soll sie noch bleiben? Ein Fernsehteam aus Moskau nimmt ihr die Entscheidung ab, grelles Kameralicht knallt auf das blasse Gesicht der Frau. Sie muss jetzt reden. Der Reporter sagt hinterher einen komischen Satz: "Die Russen interessieren sich nicht so stark für Chodorkowskij, das tut nur ihr noch, im Westen."

Im Westen also, in Berlin-Mitte, hat am Montag nicht viel gefehlt, und die Menschen hätten sich um Karten geprügelt im Kino International. Hier hatte am Montagabend der Dokumentarfilm "Khodorkowsky" von Cyril Tuschi Weltpremiere. Es wurde gebrüllt, diskutiert, geschrien, die Premiere um eine Viertelstunde verschoben. Vor dem Kino stand ein Mannschaftswagen der Polizei, und die russischen Gäste wurden von Leibwächtern begleitet. Wenige Tage zuvor waren Unbekannte in das Studio von Tuschis Filmfirma eingebrochen und hatten vier Computer gestohlen. Verfassungsschutz und Kriminalpolizei ermitteln. Tuschi will nicht spekulieren, wer die Diebe sein könnten, lieber zitiert er Spekulationen seiner russischen Freunde: "Viele halten es für möglich, dass der Kreml oder der russische Inlandsgeheimdienst hinter den Diebstählen stecken könnten." Auf den Computern war die Endfassung des russlandkritischen Films über den Öl-Oligarchen Michail Chodorkowskij gespeichert. Nur wenige Stunden zuvor hatte Tuschi der Berlinale eine Kopie seines Films zugesendet.

Der Film fängt grandios mit einer sehr langsamen 360-Grad-Drehung an, man sieht erst nur Himmel und Wolken und eine Schneelandschaft, das harmlose Russland also. Dann kommen eine orthodoxe Kirche ins Bild und schließlich Jugendliche. Kennen sie Chodorkowskij? Ein Mädchen schüttelt den Kopf: "Njet." Ihr Freund sagt: "Klar, das ist doch der, der Russland viel Geld gestohlen hat."

Vor allen Wladimir Putin hat dafür gesorgt, dass die Menschen in Russland so denken. Bei einem zweiten Prozess ist Chodorkowskij vor wenigen Wochen erneut verurteilt worden, bis 2017 bleibt er inhaftiert, weil er 218 Millionen Tonnen Öl von seiner Jukos-Firma gestohlen haben soll. Tuschis Film zeigt auch, dass es nicht empfehlenswert ist, sich mit Putin anzulegen.

Ist Chodorkowskij nun ein ruchloser Geschäftsmann, der, wie Putins Administration behauptet, Steuern hinterzogen hat? Oder statuiert Putin an ihm ein Exempel, um zu zeigen, wer sich ihm nicht unterwirft, in sibirischen Gefängnissen landet? Fünf Jahre lang hat Tuschi weltweit Chodorkowskijs Weggefährten und Widersacher interviewt, Familienangehörige, Freunde und Feinde. Aus 180 Stunden Material hat er 111 spannende Minuten kondensiert. Joschka Fischer ist darin zu sehen, entspannt in einem Garten im harmlosen Berlin.

Er sagt, Putin sei "hart und emotional gewesen in seiner Ablehnung", ob man das Verfahren gegen Chodorkowskij außergerichtlich regeln könne. Ehemalige Jukos-Mitarbeiter, die von Interpol gesucht werden und jetzt in goldenen Käfigen in Tel Aviv und London leben, werfen Chodorkowskij vor, es sei "idiotisch" gewesen, dass er 2003 von einer USA-Reise nach Russland zurückgekehrt ist, obwohl er wusste, dass er verhaftet werden würde. Chodorkowskij fasziniere ihn, sagt Tuschi: "Wie kann jemand so reich werden in einer Zeit, in der in Russland alle arm waren?" In seinem Film liefert er die Antwort: Chodorkowskij war pfiffig und schnell, als das Sowjetimperium kollabierte. Schon 1987 nutzte er als Funktionär des Jugendverbands Komsomol seine Verbindungen, um eine erste Privatfirma zu gründen: Sie handelte mit Computern und Alkohol. Mit dem Gewinn baute er eine der ersten Privatbanken Russlands auf, bald darauf erwarb er 78 Prozent der Aktien der Ölfirma Jukos.

Lesen Sie auf Seite 2, was genau Putin befürchtet hat.

Der Konzern mit 100.000 Mitarbeitern war eine Geldmaschine, 2003 besaß Chodorkowskij ein Vermögen von acht Milliarden Dollar, er wurde auf Platz 26 der reichsten Männer der Welt geführt. Obwohl Putin die Oligarchen zu politischer Zurückhaltung aufgefordert hatte, tat Chodorkowskij aber genau das Gegenteil. Vor laufenden Kameras prangerte er die Korruption im Lande an - und Putin sah rot. In einem Brief fragt Tuschi Chodorkowskij, was er denn glaube, weshalb er im Gefängnis sitze. "Vielleicht, weil Putin befürchtet hat, ich würde die Mehrheit der Jukos-Aktien an die USA verkaufen? Oder weil manche sagten, ich wolle Präsident werden?"

Das überraschende Interview

Putin hat Tuschis Interviewanfragen abgelehnt, Ex-Kanzler Gerhard Schröder auch. Schade, denn der ehemalige Wirtschaftsminister Jewgenij Saburow sagt im Film, bei der Fehde zwischen Putin und Chodorkowskij gehe es um einen archaischen Männerkampf. Er habe Schröder einmal gefragt, weshalb seiner Meinung nach Chodorkowskij einsitze. Schröder habe geantwortet: "Das ist eine Sache zwischen Männern."

Ein ehemaliger Weggefährte sagt, wenn Chodorkowskij einen Raum betreten habe, "wusste man sofort, wer der Boss ist". Jetzt sitzt der Boss im Gefängnis. Zu Recht, zu Unrecht? Tuschi windet sich, wenn man ihn fragt. Der Film solle für sich sprechen. Chodorkowskij schreibt in einem seiner Briefe: "Ja, wir haben auch moralische und ethische Standards verletzt." Welche, das erfährt man nicht. In einer Szene besucht Tuschis Team Chodorkowskijs Mutter. Sie sitzt im Wohnzimmer, es gibt Tee und Brot, an den Wänden hängen Fotos ihres Sohnes. Sie wirkt bedrückt und redet, als fürchte sie sich, etwas Falsches zu sagen. "Früher war mein Haus voll mit Leben, heute benutze ich die meisten Zimmer gar nicht mehr."

Am Ende des Films macht sich Tuschi zu Chodorkowskij auf, sieben Jahre hatte man ihn in ein Gefängnis nahe der chinesischen Grenze gesteckt, bis Präsident Dmitrij Medwedjew ihn nach Moskau holte. Tuschi filmte eine Verhandlung, als er überraschend die Erlaubnis für ein Interview bekommt. Zehn Minuten wurden ihm erlaubt, es war das erste persönliche Interview in den letzten sieben Jahren. Ein Wärter sagt vor der Kamera noch: "Aber erzähl' niemandem davon."

Es gibt Spekulationen, dass Chodorkowskij verhaftet werden wollte, um später dann, als heroischer Häftling, politische Karriere zu machen. Er selbst sagt: "Es heißt, ein kluger Mensch beseitigt Probleme und ein weiser bekommt erst gar keine. Anscheinend bin ich nicht weise genug gewesen." Er sei naiv gewesen und habe an die Unabhängigkeit der russischen Justiz geglaubt. Auf die Frage, wie er sich beschäftige, ob er meditiere, lacht er: "Meditieren? Ich? Dazu habe ich keine Zeit. Ich arbeite hart an meiner Verteidigung." Dann brüllen die Wärter, dass die Zeit abgelaufen ist.

Um die Frau auf der Premierenparty stehen jetzt Berlinale-Menschen mit Bier in den Händen und lachen. Sie lacht nicht. Es ist die erste Frau Chodorkowskijs, Lena Khodorkovskaya. Sie haben einen Sohn miteinander, Pavel, der in New York lebt. Sie sagt, Chodorkowskij sei ihre erste große Liebe gewesen. Sie würde sich heute wieder für ihn entscheiden.

Angst vor Konsequenzen habe sie keine, dass sie in dem Film zu Wort kommt. Sie habe ohnehin nicht mehr viel zu verlieren. Ihr Reisebüro habe sie vor drei Jahren schließen müssen, weil sie angeblich nicht genug Steuern bezahlt habe. Womöglich ist es aber auch so, dass man mit ihrem Namen in Russland nicht weit kommt, selbst wenn man Steuern zahlt. Ob sie glaube, dass Chodorkowskij in die Politik gehen werde? "Es muss sich etwas ändern in Russland, das ist klar." Sie bleibt vorsichtig. So wie ihr Sohn Pavel vorsichtig ist und seit sieben Jahren nicht mehr in Russland war. Wovon sie jetzt lebe? Sie muss lächeln: "Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe mich auf meine künstlerische Ader besonnen und mache jetzt Kunst. Aber ein Geschäft habe ich bislang noch nicht damit gemacht."

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SZ vom 16.02.2011/frey
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