Süddeutsche Zeitung

Gastronomie-Geschichte:Grill Royal

Lesezeit: 6 min

Balkan-Restaurants sind aus deutschen Großstädten seit Langem so gut wie verschwunden. In Berlin gibt es ein Lokal, das nicht nur Nostalgiker glücklich macht.

Von Andreas Bernard

Eines der aufregendsten neuen Lokale Berlins liegt nicht in der Kantstraße, nicht in Kreuzberg oder an der Spree in Mitte, sondern in einer Seitenstraße im Wedding. Im Erdgeschoss eines eher unattraktiven Wohnhauses aus den Achtzigerjahren hat im vorigen Jahr das "Sarajevo" eröffnet, ein bosnisches Imbissrestaurant, das gerade die in Vergessenheit geratene Küche des Balkans wiederbelebt.

Wer von der Müllerstraße, einer der großen Hauptachsen durch den Wedding, in die überraschend breite, fast boulevardhafte Triftstraße einbiegt, vorbei an türkischen Supermärkten, Spätkaufläden und obskuren Bars, sieht von Weitem schon die grünen Markisen und Sonnenschirme des Sarajevo rechts hinten. Das Lokal ist immer voll; nur mit Glück ergattert man einen der begehrten Tische im Freien. Draußen und drinnen sitzen vor allem bosnische Familien und Freundesgruppen, aber auch Handwerker im Overall nach Feierabend, Anwohner aus dem Viertel und Berliner Sterneköche und Food-Blogger, die wissen, dass das Essen hier trotz der formlosen Atmosphäre spektakulär ist.

Der Strudelteig ist hier so dünn, dass man die Instagram-Kommentare dahinter lesen könnte

Natürlich gibt es im Sarajevo die besten Cevapcici nördlich von Banja Luka, zubereitet auf einem Grill in der offenen Küche hinter der Theke. Natürlich gibt es einen sensationellen Schopska-Salat aus Tomaten, Paprikaschoten und Zwiebeln, bedeckt mit großzügigen Mengen geriebenen Schafskäses, von dem selbstgemachten Fladenbrot, das ebenfalls auf den Grill gelegt wird, unter die Ćevapčići , ganz zu schweigen. Aber der Grund, warum sowohl die bosnischen Familien als auch die Sterneköche regelmäßig ins Sarajevo kommen, ist das Burek, hauchdünner Strudelteig gefüllt mit Hackfleisch. Hinten in der kleinen Küche kann man den Köchen zusehen, wie sie den Teig bearbeiten und dann durch die Luft wirbeln, bis er so dünn ist, dass man, um ein altes österreichisches Sprichwort ins Zeitalter der Food-Blogger zu übertragen, seine Instagram-Kommentare dahinter lesen könnte.

Die Nachfrage nach diesem Gericht ist so groß, bei den Gästen im Lokal wie bei den vielen Bestellungen zum Mitnehmen (ständig parken Autos in zweiter Reihe vor dem Sarajevo), dass die frischen Strudel praktisch ohne Unterbrechung in die Vitrinen geschoben werden. Burek mit Fleisch ist hier die Hauptsache, wobei Ibrahim Jusuf, der Mann hinter der Theke, bei dieser Formulierung Einspruch erhebt: "Sag niemals 'Burek mit Fleisch‛. Es heißt einfach ,Burek‛. Wenn du ,Burek mit Fleisch‛sagst, beleidigst du den Koch." Burek mit Käse, das es im Sarajevo auch gibt, heißt "Sirnica".

Ibrahim, ein immer freundlicher, auch im größten Gedränge höflicher Mann um die dreißig, erzählt, dass das Lokal im Lockdown von seinem Onkel, Hajredin Jusuf, eröffnet wurde. In der Weddinger Pizzeria, in der er seit Jahren gearbeitet hatte, wurde er wegen der Corona-Krise entlassen. "Und da", sagt Ibrahim, "hat er sich darauf besonnen, dass sein Vater in Sarajevo lange Zeit ein Grill-Restaurant betrieben hatte." Zusammen mit sieben oder acht Familienmitgliedern, Neffen, Schwager, Cousins, die zum Teil extra aus Bosnien nach Berlin gezogen sind, hat er das nach seiner Heimatstadt benannte Lokal eröffnet, das schon nach kurzer Zeit zu einer gastronomischen Institution geworden ist. Das Sarajevo: in Berlin der amtliche Ort für die Küche des früheren Jugoslawien, so wie das "Adana Grillhaus" in der Kreuzberger Manteuffelstraße für türkisches Essen oder das "Austria" am Marheinekeplatz für Wiener Schnitzel. Dass es hier zum Nachtisch selbstgemachte Baklava und einen erstklassigen Espresso gibt, ist keine Überraschung mehr.

Balkan-Restaurants sind aus dem Stadtbild deutscher Großstädte seit Langem so gut wie verschwunden. Wenn zwischen den Pizzerias und Asia-Bistros, Burgerläden, Dönerbuden und Sushi-Bars doch noch einmal ein übrig gebliebenes "Dalmacija" oder "Opatija" auftaucht, mit Vorliebe an Ausfallstraßen, weit jenseits des Zentrums, dann markieren schon die etwas ausgeblichenen Gardinen das Unzeitgemäße dieser Lokale. In der Reihe blanker Glasfronten, die den Blick freigeben auf Theken und Tische, ist der Gastraum der alten Balkan-Restaurants meistens verhüllt. Die Schwelle, das Lokal zu betreten, liegt deshalb höher als bei den umliegenden Bistros und Bars mit ihren riesigen Fenstern; Laufkundschaft haben die letzten verbliebenen "Dalmacija Grills" daher so gut wie keine, nur eine immer kleiner werdende Schar von Stammgästen.

In der Blütezeit der jugoslawischen Küche in Deutschland, in den Siebziger- und Achtzigerjahren, waren die Restaurants immer gut besucht. Wir gingen nie dorthin, ohne dass mein Vater zuvor telefonisch reserviert hatte. Das "Opatija" in der Innenstadt war zudem viele Jahre lang unser vertrauter Ort für Familienfeiern, am ersten Weihnachtsfeiertag, bei Taufen oder runden Geburtstagen. Hinten im Lokal war eine lange Tafel gedeckt, die livrierten Kellner nahmen die Bestellungen auf, und ich erinnere mich, dass es trotz des festlichen Anlasses niemals Vorspeisen gab, nicht einmal einen Brotkorb auf dem Tisch; jeder wusste, dass das in Erwartung der Fleischmengen und Mehlspeisen überflüssig gewesen wäre. (Nur ein gefräßiger Onkel orderte als Einziger eine Serbische Bohnensuppe, die er dann jedes Mal mit hektischen Bewegungen löffelte.)

Wenn ich bei gewöhnlichen Besuchen unter der Woche, nur mit den Eltern, eher eine Portion Cevapcici, Raznjici oder Pola Pola bestellte, "halb halb", waren bei den Familienessen auch die großen Grillplatten erlaubt, die "Gourmandteller", "Räuberschmaus" oder "Nationalplatte" hießen (Jugoslawien war kurz nach Titos Tod noch ein geeintes Land). Ihre Zusammensetzung bestand aus den immer gleichen, nur wenig variierten Komponenten; neben Ćevapčići und Raznjici, den kleinen Schweinesteaks am Spieß, noch Pljeskavica, Rindersteaks und Leber, dazu Djuvec-Reis, Pommes frites, die beim Jugoslawen besonders knusprig waren, rohe Zwiebeln und das herrliche Ajvar, von dem wir immer nachbestellten.

Ich schärfte dem Kellner jedes Mal ausdrücklich ein, dass ich meine Grillplatte "ohne Leber" mochte, was aber in der Küche gerne vergessen wurde. Auf dem Teller waren die dunklen, vom Rost karierten Fleischstücke dann nicht leicht zu unterscheiden, und deshalb konnte es sein, dass ich unwillkürlich in ein Stück Leber biss. Der Ekel traf mich mit der Gewalt eines Stromschlags. Es war nicht zu sagen, woran ich das Missgeschick zuerst erkannte: an der unerwarteten Elastizität, mit der das vermeintliche Stück Fleisch im Mund nachgab, oder an seinem befremdlichen, stumpfen Geschmack. Unmöglich war es jedenfalls, den Bissen nach der Entdeckung des fatalen Irrtums hinunterzuschlucken, und so führte ich die Gabel mit größtmöglicher Beiläufigkeit zum Mund, um die Leber unbemerkt auszuspucken und unter die Salatgarnitur zu schieben (dankbares Versteck auf den Tellern bürgerlicher Gaststätten).

Meine Mutter, die sich nicht viel aus gegrilltem Fleisch machte, aß im "Opatija" meistens Sarma, mit Hackfleisch gefüllte Krautwickel in Sahnesoße - das an vegetarischem Essen Nächste, das in einem jugoslawischen Lokal möglich war. Zum Dessert gab es Nuss-Palatschinken, danach Schnaps für die Erwachsenen, deren unverständliche Namen schon in nüchternem Zustand wie gelallt klangen. Den scharfen weißen für die Männer, den süßen gelben für die Frauen, serviert in birnenförmigen Gläsern mit schmalem Hals. Nach der dritten Runde, wir Kinder wollten schon lange nach Hause und drückten uns vor Langeweile in die Stuhllehnen, wurde der Tisch vom heiseren Gelächter meines Großonkels Karl erfüllt, einem rotnasigen ehemaligen Kellner in den Grandhotels von Prag und Wien. Bei uns zu Hause hieß er immer "der Lustige"; ich habe erst viele Jahre später begriffen, dass das ein beschönigender Ausdruck für "Trinker" war.

Jugoslawische Restaurants machten zu, weil der Krieg und das Schicksal der Angehörigen die Lebenspläne der Betreiber durchkreuzte

Anfang der Neunzigerjahre ging die Zahl der jugoslawischen Lokale in Deutschland rasch zurück, und das aus zwei Gründen. Zum einen vertrug sich die Balkanküche nicht mit dem zunehmenden Wunsch nach leichter, fleischarmer Ernährung; thailändische Restaurants kamen in Mode, später die Vietnamesen und Koreaner, zuletzt die Poke-Bars und veganen Food-Bowl-Bistros. Diese kulinarischen Tendenzen gingen aber vor dreißig Jahren mit der politischen Katastrophe des Bürgerkriegs einher, und der Zerfall der Nation spiegelte sich im Kleinen in der gastronomischen Welt Deutschlands. Jugoslawische Restaurants machten zu, weil der Krieg und das Schicksal der Angehörigen die Lebenspläne der Betreiber und Angestellten durchkreuzte. Und die Lokale, die weitermachten, wiederholten die Spaltungen und Partikularisierungen im Südosten Europas, benannten sich um, strichen alle Elemente nun verfeindeter Regionen aus ihren Speisekarten.

Das vielleicht beste jugoslawische Restaurant Münchens, eröffnet vom früheren Geschäftsführer des "Opatija", war der "Belgrad Grill" in der Dachauer Straße. Eines Tages im Jahr 1992 oder 1993 stand auf der Mauer des Eckhauses plötzlich " Slowenija Grill", und da das neue Wort ein Drittel länger war als das alte, musste man für die Leuchtbuchstaben einen anderen Schrifttyp verwenden, was dem Logo einen Riss verlieh, der an den im Herkunftsland der Besitzer erinnerte. Auch die neu gedruckte Speisekarte des "Slowenija Grill" war an manchen Stellen verändert. Die "Serbische Bohnensuppe" hatte ihr Attribut verloren, das "Serbische Reisfleisch" hieß nun geopolitisch neutral "Ungarisches Reisfleisch". Der "Lustige Bosnjak" dagegen, ein mit Schinken und Schafskäse gefülltes Rumpsteak, blieb der Karte erhalten. Wenn die Erinnerung nicht trügt, stammte der Geschäftsführer aus Belgrad, doch die kundenorientierte Überlegung, das kleine, rasch als unabhängiger Staat akzeptierte Slowenien zum neuen Patron seines Lokals zu machen, wog schwerer als das Beharren auf dem Namen seiner kriegführenden Heimat.

Die Stadt Sarajevo, in einem Tal gelegen, wurde zwischen 1992 und 1996 belagert und beschossen, mehr als zehntausend Menschen starben, doch dreißig Jahre später ist das gleichnamige Lokal in Berlin-Wedding, wie Ibrahim Jusuf betont, ein Ort der Begegnung und Versöhnung. "Zwei Drittel unserer Gäste stammen aus dem früheren Jugoslawien; bei uns sitzen Bosnier und Serben, Kroaten und Mazedonier, Slowenier und Montenegriner", sagt er. "Das Essen verbindet sie. Sie sind da, um Burek und Lammkoteletts zu essen, aber auch einfach, um einen Kaffee zu trinken oder zusammenzusitzen."

In die Trifststraße, in die Richtung der grünen Markisen und Schirme, kommen aber auch all diejenigen, die sich für die Küche des früheren Jugoslawiens begeistern. Im Sarajevo kehren die beinahe ausgestorbenen "Dalmacija Grills" und "Opatijas" zurück, in offenerer, luftigerer Gestalt. Der aufregende Grillgeschmack der Ćevapčići, der Djuvec-Reis, das Ajvar. Nur Schnaps gibt es hier nicht. Gelacht wird an den Tischen trotzdem viel.

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