"Berlin Rebel High School" im Kino:"Wir erlauben uns einen Leistungswahn, der die Demokratie schwächt"

Der Filmemacher Alexander Kleider kritisiert das staatliche Schulsystem in Deutschland scharf. Seine neue Doku über eine ungewöhnliche Berliner Schule macht deutlich, wie es auch anders geht.

Interview von Paul Katzenberger

Versteckt in einem Berliner Hinterhof befindet sich eine außergewöhnliche Schule: Kein Rektor, keine Noten, kein Klassensprecher. Stattdessen wird die "Schule für Erwachsenenbildung" (SFE) von den Schülern selbst verwaltet. Sie bestimmen, was sie lernen wollen und entscheiden basisdemokratisch. Seit mehr als 40 Jahren ermöglicht die SFE vielen jungen Erwachsenen den Traum vom Abitur. Unter ihnen war auch der Filmemacher Alexander Kleider, der in den Neunzigerjahren die SFE absolvierte und nun die Doku "Berlin Rebel High School" über seine frühere Lehrstätte in die Kinos gebracht hat. In seinem Film begleitet er sechs Schüler, die alle niederschmetternde Erfahrungen gemacht haben: Sie sind mehrfache Schulabbrecher und vom staatlichen Schulsystem vollkommen abgeschreckt. Doch auf der SFE schaffen sie alle das Abitur. Kann es sein, dass an unseren Schulen etwas falsch läuft? Ja, sagt Kleider im Interview.

SZ: Herr Kleider, Sie präsentieren die SFE in Ihrem Film als Erfolgsmodell. Glauben Sie, dass sie auch als Vorbild für das ganze Schulsystem dienen könnte?

Alexander Kleider: Da müsste man schon Abstriche machen. Wir haben mit dem Film auch Schulvorführungen für 13-Jährige gehabt, zum Beispiel in einer Hauptschule in Frankfurt mit 60 Prozent Migrationshintergrund in der Schülerschaft. Da wurde es doch sehr unruhig während der Vorführung. Das heißt: Man muss schon gucken, ab welchem Alter man Schülern wie viel Freiheit zutrauen kann. Und man muss fragen: Inwieweit sind die Voraussetzungen von den Elternhäusern da?

Die Methoden der SFE, also Mitbestimmung und Verzicht auf Leistungsmessung, sind demnach auf den Unterricht mit jungen Erwachsenen anwendbar, aber bei Kindern nicht geeignet?

Dem würde ich vehement widersprechen. Ich glaube, dass weite Bereiche dieses freiheitlichen Schulmodells sehr wohl übertragbar sind. Ich denke, dass unsere Gesellschaft in Wahrheit eine Didaktik braucht, für die nicht im Vordergrund steht, den Schülern von Minute null an klarzumachen, es gehe nur um die Note und darum, wer der Beste ist, sondern um ein angstfreies Lernen und darum, wo die Potenziale liegen.

Für die Gesellschaft ist aus Sicht unserer Politiker immer wichtig, dass Deutschland im Pisa-Test gut abschneidet. Das Bundesland, dass da immer eine Führungsrolle für sich reklamiert, ist Bayern. Doch in den dortigen Schulen gilt das Gegenteil von dem, was Sie gerade beschrieben haben.

Die Politik sagt ja auch immer, dass die Bildung das wichtigste Thema sei. Dem würde ich unbedingt zustimmen. Aber nicht, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wie es die Politik im Sinn hat, sondern um die Demokratie zu stärken.

Noch funktioniert unsere Demokratie ja.

Gerade noch. Vor dem Hintergrund von Donald Trump und der Weltsituation merken wir aber plötzlich, dass die Demokratie etwas ist, das gar nicht garantiert ist und permanent verteidigt werden muss. Und in der Situation erlauben wir uns den Widerspruch, dass wir uns Kinder und Jugendliche heranziehen, die nicht demokratiefähig sind, weil sie auf Vergleich und Leistung getrimmt werden. Und dann erwarten wir, dass diese Generation die Demokratie ausfüllt.

Bisher hat das ja auch noch immer geklappt. Zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg.

Das bedeutet aber nicht, dass unser Bildungssystem das Optimum für eine Demokratie darstellt. Wo kommt denn unser Bildungssystem her, wo sind die Wurzeln? Der Ausgangspunkt war einerseits eine humanistische Bildung für die Elite in den Gymnasien, und beim ganzen Rest bestand eigentlich nur das Ziel, Fachkräfte auszubilden. Es ging aber nicht um die Ausbildung von Menschen, die demokratiefähig sind. Es ist doch ein Anachronismus, dass wir inzwischen eine moderne offene Gesellschaft haben, aber gleichzeitig ein Schulsystem aus der wilhelminischen Zeit.

Gut. Damals hat man den Bogen überspannt, und vielleicht übertreibt man den Drill immer noch. Aber ganz ohne Disziplin geht es beim Lernen nicht. Das zeigt sogar Ihr Film: Die Phase, in der es auf das Abitur zugeht, wird mit "Produktive Panik" beschrieben. In der pauken die Protagonisten ja kräftig.

Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass es Prüfungen gibt. Wir haben in unserem Leben ja ständig Prüfungen. Sie schreiben einen Artikel, ich mache einen Film, ein anderer macht eine Firma auf - wir haben alle unsere Projekte. Es gibt immer eine Deadline. Ohne dieses Prinzip gäbe es gar keine Produkte mehr, es gäbe gar nichts mehr. Insofern ist eine Abschlussprüfung wie das Abitur schon ein wichtiges Lernmodell fürs Leben.

Aber?

Trotzdem bleibt die Frage, ob wir ein Schulsystem brauchen, das in einer Phase, in der die Menschen noch in der Entwicklung sind, nur immer ans Ergebnis denkt und an den Vergleich.

Ein Prüfungsstoff ist ein Prüfungsstoff, der erarbeitet werden muss. Und dass dieses Erlernen in einer selbstverwalteten Schule wie der SFE auch mal zu kurz kommt, zeigt Ihr Film ebenfalls. Da konstatiert der Mathelehrer, dass alle miteinander das Unterrichtspensum verfehlt haben. Solche Effizienzverluste müssen aufgeholt werden.

Das Interessante ist ja, dass das auch möglich ist. Ich persönlich habe beim Abi die Erfahrung gemacht, dass ich mir in Mathe in den letzten vier Monaten vor der Prüfung das meiste so weit aneignen konnte, dass ich bestanden habe. Doch in den ersten zwei Jahren lernt man an der SFE aus Lust am Lernen und sehr impulsorientiert. Und ist dann oft dem Lehrplan hinterher. Während ich dort Schüler war, kam es zum Jugoslawien- und Irakkrieg. Da haben wir in der Klasse gesagt: 'Es soll jetzt nicht um die Nazis gehen, wir wollen jetzt die Geschichte der arabischen Welt durchnehmen.' Dann haben wir zwei Monate nur dazu gearbeitet. In der Zeit haben wir eine Vorstufe des wissenschaftlichen Arbeitens erlernt - Essays geschrieben, Vorträge gehalten und gelernt, wie man historisch recherchiert.

Vertiefen und das Herstellen von Zusammenhängen: Unterricht in der Berlin Rebel High School.

Vertiefen und das Herstellen von Zusammenhängen: Unterricht in der "Berlin Rebel High School".

(Foto: Neue Visionen Filmverleih)

"Wo ist denn in Deutschland die Innovation?"

Alexander Kleider: "Weil der Lehrer an der SFE nicht ständig bewertet, wird er nicht als Feind wahrgenommen."

Alexander Kleider: "Weil der Lehrer an der SFE nicht ständig bewertet, wird er nicht als Feind wahrgenommen."

(Foto: Lutz Bielefeld)

Sie haben sich also Wissen angeeignet, das beim Abi vermutlich nicht gefragt war.

Richtig. Aber wir haben gelernt, wie man recherchiert und wie man Zusammenhänge entdeckt. Dieser Lerneffekt ist viel wichtiger als zum Beispiel eine große Anzahl von Jahresdaten auswendig zu lernen.

Sie plädieren dafür, die Jahresdaten in Massen kurz vor der Prüfung im Kurzzeitgedächtnis zu speichern?

Ob Daten eher im Langzeitgedächtnis haften bleiben, wenn ich permanent auswendig lerne, wage ich zu bezweifeln. Und trotzdem wird in unserem Schulsystem ständig die Situation hergestellt, sich unter Druck auf irgendeine Prüfung vorbereiten zu müssen. Meine Tochter ist jetzt in der elften Klasse, und wenn ich mitbekomme, welches Pensum ständig von ihr abverlangt wird, muss ich leider zur Kenntnis nehmen, dass sie überhaupt nicht zum Vertiefen und Herstellen von Zusammenhängen kommt. Der Prüfungsdruck, der an der SFE erst am Ende kommt, ist am staatlichen Gymnasium von Anfang bis Ende gegeben. Obwohl so viel neue Ansätze theoretisch vorhanden sind. Das Wissen ist ja da, doch die Lehrpläne und die Erwartungen der Eltern verhindern die Anwendung dieses Wissens.

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für dieses Beharren auf Überholtes?

Wir erlauben uns einen Leistungs- und Vergleichswahn, der die Demokratie schwächt. Doch die Politik spornt ihn mit ihren ständigen Fragen danach an, ob Deutschland wettbewerbsfähig sei, ob die deutsche Wirtschaft die richtigen Arbeitskräfte bekomme. Der neoliberale Zeitgeist zementiert unser überlebtes Bildungssystem.

Das sind Fragen, die im globalisierten Wettbewerb aus Sorge um unseren Wohlstand gestellt werden.

Richtig. Aber wo ist denn in Deutschland die Innovation? In der Automobilindustrie, die mit dem Dieselskandal gerade gegen die Wand fährt? Wo ist denn die ganze Kreativität?

Bei den vielen Mittelständlern, die in einer technischen Nische Weltmarktführer sind. Unser duales System aus theoretischer Ausbildung in Berufsschulen und praktischer Ausbildung in der Lehre versorgt sie mit sehr guten Fachkräften. Das ist wohl wirklich ein Bildungsmodell, um das uns die Welt beneiden kann.

Ohne Zweifel. Das hat aber weniger etwas mit dem Notstand zu tun, der aus meiner Sicht an staatlichen Gymnasien besteht, und der mich dazu veranlasst hat, "Berlin Rebel High School" machen zu wollen. Ein gutes Beispiel für Kreativität ist für mich die digitale Revolution. Der Humus, auf dem Google und Co. gedeihen konnten, wurde in den Sechzigerjahren in Kalifornien gelegt. Die Hippiebewegung, die sich dort damals formierte, war darauf angelegt, die Angst zu verbannen. Das Motto hieß: 'Lieber Kollektivität als Egoismus'. Die Protagonisten der digitalen Revolution kommen aus dieser Generation - das wird oft vergessen.

Ihr Film zeigt sehr deutlich, dass Kollektivität nicht nur das Wohlbefinden durch freundschaftliche Annäherung steigert, sondern die Verbundenheit in der Gruppe auch dazu führt, sich anzustrengen. Man will da nicht hinter den anderen zurückhängen. Man könnte das aber auch als Gruppenzwang interpretieren.

Wenn Zwang etwas Negatives ausdrücken sollte, würde ich das zurückweisen. Denn was ist falsch daran, dass die Solidarisierung einem Ziel wie dem Abitur dient, das allen Beteiligten mehr Selbstbewusstsein gibt? Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich an der SFE selbst erlebt habe, und das ich beim Drehen nun wieder wahrnehmen konnte, ist überhaupt das Schönste an dieser Schule: Dass man sich gegenseitig hilft, und dass man will, dass es alle schaffen. Damit bleibt das Bestehen als gemeinsames Bestehen immer im Gedächtnis. Einer meiner besten Freunde heute ist jemand, mit dem habe ich an der SFE Abi gemacht.

Als klarer Gegensatz zum staatlichen Schulsystem fällt im Film auch das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern auf. Die Lehrer sind auch Teil des Kollektivs, das sich da bildet.

Der Lehrer ist an der SFE eher ein Mentor, eine mütterliche Freundin oder ein väterlicher Freund, die oder der nicht nur den Stoff lehrt, sondern eine Welt des Wissens öffnet. Und weil der Lehrer an der SFE nicht ständig bewertet, wird er nicht als Feind wahrgenommen. Diese Offenheit genießen die Lehrer ja auch. Obwohl sie so kümmerlich verdienen, haben die Lehrer der SFE keinerlei Burn-out, sondern arbeiten alle weit über ihr Rentenalter hinaus, weil sie weiterhin Lust an ihrem Beruf haben. Wenn man das mit dem staatlichen Schulsystem vergleicht, in dem viele Lehrer jenseits der 50 in Frührente gehen, weil sie Angst vor ihrer Klasse haben, dann kann man sich auch unter diesem Aspekt nur fragen, warum so zwanghaft an unserem staatlichen Schulsystem festgehalten wird.

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