Süddeutsche Zeitung

Kunst-Vandalismus in Berlin:Diese Übergriffe gelten nicht nur den Exponaten

Immer wieder zerstören und beschädigen Menschen Kunstwerke. Das zeigt, dass sie die Institution Museum nicht verstehen.

Von Catrin Lorch

Mary Richardson sagte hinterher, sie habe versucht, die "schönste Frau der Mythologie zu zerstören als Protest gegen die Regierung". Richardson war am 10. März 1914 in der Londoner National Gallery mit einem Hackbeil auf Velázquez' Meisterwerk "Rokeby Venus" losgegangen, um gegen die Inhaftierung der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst zu protestieren. Vierzig Jahre später gab sie in einem Interview noch an, sie habe "die Art nicht gemocht, wie männliche Besucher den ganzen Tag draufglotzten". Die Narben, die ihr Beil dem zart kolorierten Rücken beibrachte, sind bis heute zu sehen.

Auch die Buchstaben "IRA", die irische Aktivisten 1974 in die Leinwand von Rubens' "Anbetung der Könige" in der King's College Chapel in Cambridge hieben, konnte man nicht wegrestaurieren, anders als das "Kill Lies All", das der Künstler und Kunsthändler Tony Shafrazi aus Protest gegen Richard Nixons Politik breit auf Pablo Picassos epochales "Guernica" setzte.

Die Geschichte des Museums verzeichnet unzählige Angriffe, Zerstörungen und Attacken. Manche sind politisch motiviert. Andere so unerklärlich wie das Säureattentat auf Rembrandts "Danae" in der Eremitage im Jahr 1985. Der Anschlag von Jake Siebel, der vor zwei Jahren im Denver Art Museum chinesische Vasen, eine Wolfsmaske und präkolumbische Gefäße zerschlug. Oder die Aktion eines arbeitslosen Kochs, der im Jahr 1911 im Amsterdamer Rijksmuseum an den dicken Farbschichten von Rembrandts "Nachtwache" herumkratzte. Deren Leinwand wurde dann Dekaden später von einem Lehrer zerschnitten, womöglich nur, weil man ihm am Vortag den Zutritt ins Museum außerhalb der Öffnungszeiten verwehrt hatte. Voller Wut kaufte er sich ein Ticket und zog los - wie auch all die anderen. Denn Museen sind eben keine abgeschotteten Schatzhäuser, sondern öffentliche Orte.

Die Vandalen mit ihren Ölkännchen haben etwas von verirrten Geistern

Aber kann man den Vandalismus im Museum besser oder schlechter begründen? Denn weder ist Velázquez' Gemälde eine Nackte, die Männer zum Glotzen verführt, noch sind Opferstätten, Madonnen, Kreuze oder Zepter länger in Gebrauch, wenn sie einmal über die Schwelle des Museums getragen wurden. Wer sich vor den Vitrinen provoziert fühlt, missversteht das Museum. Zu dessen Wesen gehört es, dass die Dinge, die dort ausgestellt, verwahrt, erforscht und vermittelt werden, ihrem ursprünglichen Zusammenhang für immer entzogen sind. Das ist die Voraussetzung für die Arbeit des Museums, für Musealität an sich. Von der Skulptur bis zum Ritualgewand sind die Exponate allen ursprünglichen Funktionen und Zusammenhängen enthoben. Das Museum ist kein Sockel - es ist ein Denkraum.

Die Demokratie ist dringend angewiesen auf solche Freiräume, in denen nicht nur ästhetische Fragen debattiert werden, sondern auch kulturelle Praktiken, Traditionen, Rituale. Nicht als Werte an sich oder gar als Symbole - sondern, im Gegenteil: um sie auf ihren ästhetischen Gehalt, ihre Geschichte oder kulturelle Bedeutung zu überprüfen und diskutieren.

Die Vandalen von der Museumsinsel haben etwas von verirrten Geistern. Doch muss man sie ernst nehmen. Übergriffe wie die jetzt geschehenen gelten nicht nur den Exponaten, sondern dem Museum als Institution. Es ist ganz gleich, ob es sich bei den Angreifern um sektiererische Spiritualisten handelt oder um abgedrehte Verschwörungstheoretiker - sie begreifen nicht, dass das Museum seine Exponate nur deswegen aufsockelt, damit wir alle sie kritisch betrachten können. Weil eine demokratische Gesellschaft solche Freiräume noch notwendiger braucht als Symbole.

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SZ vom 22.10.2020/khil
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