Süddeutsche Zeitung

Bericht:Erfreuliche Nachrichten

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Russland hat ein miserables Image. Was vor allem am Präsidenten Wladimir Putin liegt. Aber was ist mit den Menschen? Stephan Orth hat sich bei ihnen auf die Couch gelegt.

Von Stefan Fischer

Genrich hat viele Interessen - und noch mehr Prinzipien. Unter anderem kann er sich für Motorräder und A-cappella-Gesang begeistern, darüber hinaus für Sprachwissenschaft, den orthodoxen Glauben sowie für Auf-dem-Tisch-Tanzen. Unter Lieblingsfilmen listet der Moskauer "Easy Rider" und die "Deutsche Wochenschau". Und Genrich hat eine sehr klare Vorstellung davon, wie sich ein Gast bei ihm zu verhalten hat. Er bietet Reisenden über die Internet-Plattform Couchsurfing Quartier in seiner Wohnung. Auf seiner Profilseite finden sich mehrere Dokumente, die zusammen ein Dutzende Bildschirmseiten umfassendes Regelwerk bilden, unter anderem zu den Bereichen Pünktlichkeit, Körperhygiene, Verweildauer sowie Gastgeschenke. Außerdem erklärt Genrich, welche Gäste er nicht möchte, etwa solche, denen es vor allem ums Geldsparen geht oder die von sich behaupten: "Ich bin offen, unkompliziert, mag reisen und freue mich, neue Leute kennenzulernen." Wer sein Ankreuz-Formular zur Kontaktaufnahme nicht vollständig ausfüllt, bekommt eine Fehlermeldung.

Couchsurfing kann eine überaus bürokratische Angelegenheit sein.

Stephan Orth lässt sich nicht abschrecken, er schreibt: "Priwjet, liebes Backpacker-Hostel Genrich! Ich bin offen, unkompliziert, mag reisen und freue mich, neue Leute kennenzulernen." Die Mühlen der Bürokratie in Moskau mahlen drei Minuten lang, dann hat Orth eine Zusage.

Die Dinge sind oft nur auf den ersten Blick kompliziert in Russland, das ist die erste Lektion, die der Autor Orth lernt. Von Anfang an ist ihm klar, dass der erste Blick selten unter die Oberfläche reicht - doch genau dorthin möchte Orth vordringen, das macht die Sache dann wieder kompliziert und anstrengend. Russland hat einen miserablen Ruf; Orth überlegt, was die letzte erfreuliche Nachricht über das Land war, an die er sich erinnern kann: "Irgendwie will mir nur eine Aufführung von ,Peter und der Wolf' einfallen, die ich als Siebenjähriger besucht habe."

Diese negative Sicht kann unmöglich die ganze Wahrheit sein.

Es gebe insofern kein Reiseziel, dessen Besuch dringlicher erscheint, schreibt er: "Über kein Land der Erde ist die Informationslage derzeit verwirrender." Zu einer Medienschelte will Stephan Orth trotzdem nicht ansetzen, er war selbst lange Jahre Journalist, ehe er sich aufs Bücherschreiben verlegt hat und ihm 2015 mit "Couchsurfing im Iran" gleich ein Bestseller gelang. Aber es sei nicht von der Hand zu weisen, dass etwa die USA ein besseres Image haben als Russland, obwohl sie "in den letzten 20 Jahren außenpolitisch mehr Blödsinn angestellt" haben. Die Vertrautheit mit der amerikanischen Kultur und grundsätzlich mit westlichen Gesellschaften ist größer, und das bilden die Medien auch ab.

Wie tickt Russland, was wollen die Russen, wo steuert dieses rätselhafte Land hin? Darüber herrscht hierzulande wenig Gewissheit, weit weniger jedenfalls als im Fall etlicher derzeit ebenfalls mit ihrer Identität ringenden Länder der westlichen Hemisphäre. Stephan Orth sucht auf seiner Reise, die ihn erst von Moskau nach Süden in den Kaukasus und dann weit in den Osten des Landes führt, nach ein paar Antworten auf diese Fragen. Er erhofft sie sich von Menschen wie Genrich, die ebenfalls neugierig sind und interessiert an fremden Menschen, Gedanken und Haltungen. Die aber offenkundig in einigen zentralen Punkten eine andere Weltanschauung haben als der Gast aus Deutschland.

Nach Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan reist der 37-Jährige insofern auch nicht um des Abenteuers willen (obwohl er Abenteuern gegenüber nicht abgeneigt ist), sondern weil sich Russland im Kaukasus noch einmal in einem anderen Gewand zeigt. Dort leben Minderheiten, die von den lokalen Regimes und der Zentralmacht gleichermaßen gegängelt werden. Die Menschen leben mehrheitlich in einer stillen Opposition zu Präsident Putin. Es ist aber eine andere Opposition als die von einem Teil der westlich orientierten jungen Leute in Moskau oder Sankt Petersburg.

Wer es hier schafft, der schafft es überall - davon sind viele Russen überzeugt

Wobei auch die eher nicht prowestlichen Kaukasier mit Versatzstücken westlicher Kultur operieren. In Grosny besucht Orth das Café "HalAl Pacino", in Machatschkala die Kneipe "Chende choch" - eine Reminiszenz an das "Hände hoch" aus deutschen Kriegsfilmen. Eine Kneipe weiter sitzt ein Alter und zitiert Heinrich Heine. Spannend sind Orths Erkundungen auf der Krim, sie machen einem erklärlich, wie wichtig deren Annexion fürs Selbstwertgefühl vieler Russen ist.

Manches andere ist nur kurios, nicht jede Anekdote erklärt irgend etwas. Das ist eine Qualität von "Couchsurfing in Russland". Es ist ein politisches Reisebuch, aber eben vor allem ein Reisebuch. Orth verweigert sich Verallgemeinerungen, er schließt nie unzulässig aufs große Ganze. Und doch ergibt sich ein Bild. Eine Haltung, die ihm immer wieder begegnet, ist der Stolz darauf, mit den Widrigkeiten in diesem Land klarzukommen, abgeleitet von dem New Yorker Motto: Wenn du es hier schaffst, schaffst du es überall. Nur unter ganz anderen Vorzeichen. Sowie ein Bestreben, sich nicht manipulieren zu lassen, weder vom Staat noch von den Medien.

Das Buch kann nicht mehr als nur einen kleinen Ausschnitt zeigen aus der russischen Wirklichkeit. Aber dass er mit der Realität konfrontiert worden ist, darauf beharrt Stephan Orth - wohl zu Recht. Seine Begegnungen seien wahrhaftig, insistiert er, weil es beim Couchsurfen nicht um "eine Reise als Konsumgut" geht, "bei der man sich nachher fragt, ob man ,für sein Geld' auch entsprechend viel Spaß, Fotomotive, Sonne und Entspannung bekommen hat". Sondern um ein "gegenseitiges Geschenk von Zeit und Neugier".

Eines aber muss Stephan Orth recht schnell einsehen, es ist seine "Wahrheit Nummer 6" über sein Reiseziel: "Mit dem Satz ,Das ist Russland' lassen sich viele Sachverhalte erklären, für die es ansonsten keine vernünftige Erklärung gibt."

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Quelle:
SZ vom 21.03.2017
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