Süddeutsche Zeitung

Netzkolumne:Styling unerwünscht

Eine Foto-App schickt Nutzern einmal pro Tag die Aufforderung, innerhalb der nächsten zwei Minuten ein Bild aufzunehmen.

Von Michael Moorstedt

Authentizität hat momentan ein bröckeliges Standing in der Welt. Man muss gar nicht erst auf die grassierenden Fake News zurückgreifen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. War die sogenannte Realness in früheren Sub- und Jugendkulturen noch eine begehrte Eigenschaft, haben jahrelange Exposition gegenüber der von Social-Media-Plattformen propagierten Hochglanzwelt zu einem Sieg der Oberflächlichkeit geführt. Authentisch sein bringt keine Follower.

Hinein in diese Krise des Realen platzt nun eine neue Foto-App, die dem schönen Schein den Kampf ansagt. Die Prämisse des Programms namens BeReal ist denkbar einfach: Einmal pro Tag bekommen die Nutzer die Aufforderung, innerhalb der nächsten zwei Minuten ein Bild aufzunehmen. Aktiviert wird dabei sowohl die Kamera auf der Vorder- und Rückseite des Telefons. Der Grund für das Zeitlimit ist klar. Zwei Minuten reichen vielleicht aus, kurz die Haare zu richten, aber nicht, um all die Standard-Requisiten herbeizuschaffen, die sonst in Social-Media-Motiven gängig sind. Optionen zur Retusche gibt es ebenso wenig wie andere in sozialen Netzwerken vermeintlich unverzichtbare Funktionen wie etwa einen "Gefällt-mir-Knopf" oder gar Werbung. Da erwischt es einen halt beim Einladen der Wäsche oder kurz nach dem Aufstehen und nicht auf dem coolen Festival oder wenigstens im schicken Essensladen.

Haben die sogenannten jungen Leute nach Jahren der Ego-Kuratierung also genug von der sorgfältigen Inszenierung der eigenen Person, dem Spiel mit den Identitäten, das ja oft genug so gut wie gar nichts mit dem eigentlichen Menschen zu tun hat, der da vor dem Bildschirm sitzt? Nachvollziehbar wäre es durchaus. Es ist immerhin reichlich anstrengend, wenn jedes Mittagessen so aussehen muss, als stamme es aus einer Hochglanzzeitschrift. Wenn Mienen und Meinungen erst durch zahlreiche Filter gejagt werden, um einen größtmöglichen Effekt bei dem eigenen Mikro-Publikum zu erzielen.

Obwohl es die App bereits seit längerer Zeit gibt, hat sie offenbar erst in den vergangenen Monaten an Fahrt aufgenommen. Knapp hunderttausend Downloads verzeichnet das Programm täglich, das ist angesichts der knappen Milliarde an Instagram-Nutzern bei weitem nicht genug, um eine Trendwende oder gar Revolution auszurufen. Doch interessant ist es dennoch.

Die Grundannahme ist also, dass die Menschen dazu gebracht werden müssen, ihr wahres Ich zu offenbaren. Und dass in diesem Ich eine irgendwie geartete Wahrheit besteht, die jeder sehen will - und nicht das sorgfältige vorbereitete Ich, mit dem man sich normalerweise in der Gesellschaft, sowohl online als auch offline, verhält. Nach dieser Logik würde eine noch konsequentere Version von BeReal den Freunden einfach Zugriff auf sämtliche gespeicherten Fotos auf dem Smartphone gewähren - am besten noch ohne das eigene Wissen.

Wenn der panoptische Blick, den sich die Menschen in den letzten Jahren angewöhnt haben, uns verfälscht, macht uns nur der Voyeurismus frei? Das klingt auch wieder unschön. Vielleicht beruht das ja auch alles auf einem großen Missverständnis, und das soziale Web war ohnehin niemals dazu gedacht, das unverstellte eigene Selbst zu präsentieren.

Nichtsdestotrotz könnte es passieren, dass wir in den nächsten Monaten vermehrt Menschen dabei zusehen, wie sie sich ihre Zähne putzen, auf der Couch vor dem Netflix-Bildschirm herumlungern oder doch nur wieder spät nachts eine E-Mail beantworten. Ist Banalität jetzt das neue Cool? Wahrscheinlich nicht. Aber auch wenn sich BeReal nicht durchsetzen wird, bietet der momentane Mini-Hype ein bisschen erfrischende Abwechslung - zumindest für Social-Media-Poweruser. Denn die beinahe aggressive Normalität, der man auf der Plattform beiwohnen darf, sorgt auch einmal mehr für die Erkenntnis, dass das Leben der meisten Menschen richtig, richtig langweilig ist. Und das ist auch in Ordnung.

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