"Hard Land" von Benedict Wells:49 Geheimnisse

Benedict Wells, Pressebild des Diogenes-Verlags

Über eine Million verkaufte Exemplare: der Schriftsteller Benedict Wells

(Foto: Roger Eberhard)

Die Einsamkeit der Außenseiter: Benedict Wells erzählt in seinem neuen Roman "Hard Land" von einer Jugend im Missouri des Jahres 1985.

Von Bernhard Blöchl

Erste Sätze sind wie Dates. Sie können sich als Hochstapler entpuppen, als Langweiler oder Reinfälle, im besten Fall sind sie die Erfüllung schlechthin. Benedict Wells lässt seinen neuen Roman mit einem Satz beginnen, in dem die Essenz der Geschichte steckt, Plot und Spoiler zugleich, und noch ein bisschen mehr. Zunächst der Satz: "In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb." Darum geht's in "Hard Land", um den schönsten und schlimmsten Sommer, das pralle Leben im ersten Satz.

Man könnte das Buch auch in einem Wort zusammenfassen. Euphancholie hieße dieses Wort, ein Mashup aus Euphorie und Melancholie. "Einerseits zerreißt's dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird." Das sagt Kirstie, die Erfinderin des Wortes, in die sich Sam, der pubertierende Ich-Erzähler, Hals über Kopf verknallt. Dieses Gefühl ist dieser Roman, ein Buch über die maximale Euphancholie des Erwachsenwerdens.

Was ein bisschen wie auf dem Reißbrett konstruiert wirkt, ist eine fluide Geschichte über Freundschaft und Liebe, Familie und Heimat. Eine Geschichte, der man das Analytische kaum anmerkt vor lauter Empathie für Themen und Figuren. Das Ensemble ist toll, kantig und scharf gezeichnet, allen voran die Freundesclique, die schöne Kirstie mit der Zahnlücke, der sportliche Brandon, genannt Hightower, und Cameron, der auf Männer steht.

Ein großes Gespür für bipolare Gefühlswelten und feine Tragik

Die Teenager vereint der Wunsch, das Kaff in Missouri bald zu verlassen ("Grady ist wie ein Pornokino in Zeiten der VHS-Kassette"). Bis es so weit ist, lenken sie sich gegenseitig von der Langeweile ab und den neuen Freund Sam von dem Gefühl, "etwas Schlimmes wird passieren". Sie fordern sich in Mutproben, hängen auf dem Dach des Kinos ab, feiern Partys, rauchen, trinken, und sie grübeln über die 49 Geheimnisse, die ihr Städtchen am Lake Virgin verspricht (49 Kapitel hat denn auch der Roman).

Benedict Wells ist ein erfahrener Schriftsteller mit Gespür für bipolare Gefühlswelten, für große Träume und feine Tragik. Seine bisherigen vier Romane und ein Kurzgeschichtenband haben sich in Dutzenden Ländern mehr als eine Million Mal verkauft, mit "Vom Ende der Einsamkeit", seinem wuchtigsten Werk, hat er Kritiker und Leser überzeugt. Der Bewunderer von John Irving weiß genau, was er tut und was er will.

Mit "Hard Land", seinem fünften Roman, hat er nicht irgendeine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben. Jede der 352 Seiten strahlt aus: Hier geht es um die Blaupause der Coming-of-Age-Geschichten, das Herauslösen aus der Jugend unter schwierigsten Bedingungen. Wells hat es sich selbst nicht leicht gemacht, indem er die Geschichte über einen fast 16-jährigen Außenseiter, dessen krebskranke Mutter stirbt, während er sich erstmals verliebt, in die USA des Jahres 1985 verpflanzte, in eine Zeit, die Wells als Säugling in Oberbayern verbrachte.

Beste Zutaten, neu gemischt, funktionieren meistens

Er konnte bei Billy Idol, OMD und den Simple Minds nicht mitfiebern, als diese ihren Pop-Zenit erreicht hatten. Viel Sehnsucht steckt in seiner literarischen Zeitreise, wobei er es hier und da ein bisschen übertreibt mit Bezügen und Symbolen. Dann leidet die Leichtigkeit unter der Last der Vorbilder, weil man gedanklich wegrutscht und zu vergleichen beginnt.

Womit wir bei der Remix-Taktik wären. Beste Zutaten, neu gemischt, funktioniert meistens. Wells macht daraus kein Geheimnis, sein Buch ist eine Hymne auf die Musik und Filme der Achtziger, ein Füllhorn an Referenzen. Vor dem ersten Kapitel steht ein Zitat aus "Ferris macht blau" (zudem gibt es hier wie da einen Cameron), auf der Leinwand laufen "American Graffiti" und "Breakfast Club", und oft lockt im Feld der Roggen, in Anspielung an den berühmten Fänger.

Ein Mashup wie das Wort Euphancholie ist dieser Roman, eine Art "Breakfast Club" durch die Brille von John Green, mit einem Titel, der als kleine Hommage an den befreundeten US- und Diogenes-Kollegen Joey Goebel ("Heartland") daherkommt, mit dem Wells eines seiner Lieblingsthemen teilt: die Einsamkeit der Außenseiter.

Wells' Stil ist klar und leicht zugänglich. Was den Autor nicht von fantasievollen Sätzen abhält, die immer wieder aufscheinen. "Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe."

Erste Sätze haben es Wells besonders angetan. Das verbindet ihn mit Kirstie. Der blonde Jungsschwarm sammelt Romananfänge, immer wieder tauscht sie sich mit Sam, der eigentlich mehr auf Zahlen steht, darüber aus. Einer beeindruckt den Ich-Erzähler ganz besonders, er stammt aus Charles Simmons' "Salzwasser": "Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank." Oha, der erste Satz von "Hard Land" ist also selbst ein Remix. Da Sam Simmons' Zeile verehrt und nun seine Erinnerungen, die "Hard Land" formal sind, mit einer Variation davon beginnt, steckt in Wells' Auftakt noch ein bisschen mehr als die Essenz der Geschichte: eine Extraportion Raffinesse.

Auch letzte Sätze werden unterschätzt. Deshalb soll dieser Text mit einem Knall enden: "Hard Land" ist ein klug konzipierter und berührender Roman, und es gibt kaum Gründe dafür, warum er kein internationaler Bestseller werden sollte, dessen Verfilmung nur eine Frage der Zeit ist.

Benedict Wells: Hard Land. Roman. Diogenes, Zürich 2021. 352 Seiten, 24 Euro.

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