Belletristik:Pathospolizei liest mit

"Null bis unendlich", der erste richtig ernste Roman der Münchner Autorin Lena Gorelik trägt schwer an seinem eigenen Gewicht.

Von Kathleen Hildebrand

Am Anfang, der eigentlich das Ende dieser Geschichte ist, verbrennt Nils eine Schachtel mit Gedichten. Sanela hat sie geschrieben, seine Jugendliebe, die jetzt tot ist und deren Sohn er zu sich genommen hat. Sie ungelesen zu verbrennen ist in Ordnung, denn Sanela hat die Gedichte nicht für die Ewigkeit geschrieben, sondern jeden Morgen als Frühgedankensport. Allein schon das Wort, "Ewigkeit": viel zu pathetisch.

Man kann diese Information - dass eine der beiden Hauptfiguren stirbt - hier einfach mal vorwegnehmen, ohne dass irgendjemand das Recht hat, "Spoiler!" zu rufen. Lena Gorelik tut das ja selbst sofort, nämlich auf Seite vier, und springt danach ständig zwischen den verschiedensten Zeitebenen. Denn ein klassisches Melodram soll "Null bis unendlich" auf keinen Fall sein, auch wenn die Handlung ein bisschen so klingt: Als sie vierzehn sind, bringt der hochbegabte Nils dem jugoslawischen Flüchtlingsmädchen Sanela Deutsch bei. Sie schreiben sich immer komplexer werdende Briefe und fahren irgendwann zusammen ins Kriegsgebiet auf dem Balkan, um das Grab von Sanelas Vater zu suchen. Zurück in Deutschland verschwindet Sanela, erst fünfzehn Jahre später meldet sie sich wieder bei Nils. Die beiden werden ein Paar, oder zumindest eine Art von Paar, bis Sanela nach kurzem Glück, oder zumindest einer Art von Glück, an Krebs stirbt.

Für ihren neuen Roman hat die Münchner Autorin Lena Gorelik drei Romanfiguren erfunden, die zusammen eigentlich kaum für einen Roman taugen: Nils, ein Journalist von wahnsinniger Intelligenz, ein Mann ohne Eigenschaften, betrachtet seine Gefühle eher wie interessante Ausstellungsobjekte hinter Glas. Der erste Satz, den man von ihm hört, lautet: "Ich habe mich entschieden, dich nicht zu lieben." Sanela, seine frühere Klassenkameradin, ist Außenseiterin wie er, aber als traumatisierte Kriegswaise aus anderen Gründen. Auch sie hält ihre Gefühle auf Sicherheitsabstand, ihr ganzes kurzes Leben lang. Ihren Sohn liebt sie sehr, sagt das aber natürlich nicht. Sie nennt ihn "den Jungen". Der wiederum hat mit seinen verkapselten Gefühlen noch mal ganz andere Probleme als die Erwachsenen.

Zu viele Gefühlsfilter halten den Leser auf Abstand

Von der Leichtigkeit, mit der Gorelik bisher erzählt hat - sogar noch in ihrem vorigen Roman "Die Listensammlerin" (2013), immerhin die Geschichte einer Mutter, die um das Leben ihrer Tochter fürchten muss - ist in ihrem neuen Buch nur noch ein ferner Schatten zu spüren. "Null bis unendlich" liest sich, als wolle Lena Gorelik die Schublade, die bei Nennung ihres Namens aufgeht - nämlich die mit der Aufschrift "heitere Geschichten über russischstämmige Juden in Deutschland" - fest verschließen. Der Witz ist schwarz und darf nur noch aus der Ferne winken. Und damit er sich nicht doch wieder einschleicht in ihre Sätze, stellt Gorelik ihm sehr viele schwere Themen in den Weg: den Balkankrieg, einen Suizidversuch, schwere Hochbegabung, Asperger, Bindungsunfähigkeit und einen Hirntumor.

Es steckt also sehr viel Tragik in diesem Roman. So viel, dass Lena Gorelik ihren Figuren Gefühlsfilter eingebaut hat, vielleicht, um sie vor ihrer eigenen Geschichte zu schützen - und die Leser gleich mit. Man sehnt sich fast nach ein bisschen Gewöhnlichkeit zwischen diesen drei so überungewöhnlichen Figuren. So vieles bleibt unausgesprochen, so vieles auf Abstand gehalten, dass die Stille irgendwann ziemlich laut schreit. Und es am Ende doch das ist, was Nils' Liebe, Sanela und Lena Gorelik gar nicht sein wollen: ziemlich pathetisch.

Lena Gorelik: Null bis unendlich. Roman. Rowohlt Berlin 2015. 304 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99.

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