Süddeutsche Zeitung

Belletristik:Mit Saša Stanišić ist gut Träume pflücken

Mit seinem hinreißend schrägen Erzählungsband "Fallensteller" zeigt sich Saša Stanišić abermals als großer Zauberkünstler der jüngeren deutschsprachigen Literatur.

Von Christopher Schmidt

Die Nummer mit der zersägten Jungfrau gehört zum Standardrepertoire der Zauberkunst. Seltener kommt es dagegen vor, dass der Jungfrauen zersägende Zauberer zugleich Inhaber eines Sägewerks ist, oder zumindest Mitinhaber wie Ferdinand Klingenreiter, besser: Freddie, der Famose; Freddie, der Fantastische, so sein Künstlername. Seit fünfzig Jahren ist er im Sägewerk der Familie angestellt, aber das Geschäft hat er seinem Bruder überlassen, der erneuern wollte, investieren, "entwurmen". Freddie ist immer schon lieber "Kirschen und Träume pflücken gegangen".

Nun, mit 77 Jahren hat er zum ersten Mal selbst Hand angelegt im Sägewerk und sich "eine Kiste für eine Große Illusion" gebaut, "eine Kiste für die Kunst". Eine Betriebsfeier steht bevor, und endlich soll seine Stunde schlagen, will er der Welt beweisen, was seine wahre Berufung ist: die Zauberei.

Hanno Buddenbrook lässt grüßen

Glühend vor Lampenfieber und Angst, sich wieder mal einzunässen, wartet Freddie auf seinen großen Auftritt, doch sein Neffe, der seit dem Tod des Bruders die Fabrik leitet, will sich ihm nicht als Freiwilliger aus dem Publikum zur Verfügung stellen. Für ihn springt dessen Sohn Felix ein, auch er einer, der eine künstlerische Ader hat, aus der Art geschlagen ist - ein weitläufiger Verwandter von Hanno Buddenbrook. Und wenn wir schon bei Thomas Mann sind, darf dessen Novelle "Mario und der Zauberer" nicht unerwähnt bleiben. Wie diese ist auch die Auftakterzählung von Saša Stanišićs Band "Fallensteller" eine Künstlerparabel. Sie handelt von der Magie des Schreibens, bei dem es wie beim Zaubern nicht darum geht, "was ich mache", sondern darum, "was ihr nicht seht, was ich mache". Es geht darum, wie man den Wörtern die Schwere nimmt. Programmatisch hat Stanišić diese Geschichte an den Anfang seines Sammelbandes gestellt, als erzählerische Einführung in seine Poetologie des Kirschen- und Träumepflückens. Und mit diesem Autor ist wahrlich gut Träume pflücken.

"Fallensteller" ist selbst so eine magische Kiste, in die Saša Stanišić allerlei Wunderdinge und literarische Zauberkunststücke hinein gelegt hat, aber schon auch manchen übrig gebliebenen Krimskrams. So ist die Titelerzählung eine Fortschreibung seines Romans "Vor dem Fest", für den Stanišić 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, und das längste Stück des Bandes. In diesem Bonus-Track schildert der Autor, wie es nach dem Fest weiterging in Fürstenfelde, dem Schauplatz seines, "uckermarkerschütternden" Dorfromans.

Der titelgebende Fallensteller ist ein Mann, der sich um allerhand Plagen kümmern soll, um Problemwölfe und vandalistische Keiler, um Ratten und am besten auch gleich noch um die Neonazis. Aber der wahre Fallensteller und fidelste Rattenfänger ist der Autor selbst, der sich als "verweichlichter Jugo-Schriftsteller" in den Text geschmuggelt hat. Stanišić versteht sich darauf, Schlingen und falsche Fährten auszulegen, um seine Leser einzufangen. Mit seinem Lausbuben-Charme hat er den Literaturbetrieb gründlich um den Schlingelfinger gewickelt - ein unwiderstehlicher Trickster und Hütchenspieler, bei dem einem der Sascha aus dem Kinderlied in den Sinn kommt, das ja vielleicht auch noch heute an den Montessori-Schulen gesungen wird und in dem es heißt: "Konnte hoch im Bogen spucken, / Und auch mit den Ohren zucken."

Unter den jüngeren Autoren gehört Stanišić definitiv zu denen, die literarisch am weitesten spucken, und mit den Ohren zucken seine Texte sowieso. Jeder von ihnen ist ein kleines Sprachkunststück, die Performance eines wunderbaren Alleinunterhalters. Als Köder dienen ihm dabei manchmal einzelne Wörter. Man meint, Stanišić geradezu dabei zusehen zu können, wie beispielsweise das Wort "Inflight-Riesling" seine Fantasie und Fabulierlust in Gang setzt und sich auswächst zu gleich mehreren Erzählungen. Ein Anwalt reist im Auftrag einer Brauerei mit dem Flugzeug nach Südamerika. Vom Riesling befeuert, findet er sich irgendwann in einem irrwitzigen Traum wieder, in dem er - lost in translation - in Bukarest verloren geht. Es entspinnt sich eine Geschichte, die sich vor allem darum zu drehen scheint, die rumänischen Wörter für das Groteske und das Kafkaeske, nämlich "Groteskul" und "Kafkaeskul", anzuwenden.

Je näher dieser Autor ein Wort anschaut, desto ferner, fremder, surrealer schaut es zurück

"Das Biest Sprache hat mich in seinen Fängen", heißt es einmal. Je näher dieser Autor ein Wort anschaut, desto ferner, fremder, surrealer schaut es zurück. Manche von Stanišićs Geschichten funktionieren nach dem Prinzip des Kinderspiels "Ich packe meinen Koffer und nehme mit . . .". Seinen persönlichen Reisekoffer aber bezeichnet Stanišić als "Gepäck voll Allerlei: Sprache, Mut und Zauberei". Dass er das leichte Gepäck bevorzugt, hängt auch damit zusammen, dass der 1978 im bosnischen Višegrad geborene Stanišić 1992 mit seinen Eltern vor dem Krieg nach Deutschland floh.

Ist die Sprache schon selbst ein Abenteuer für ihn, so erschöpft sich in ihr nicht seine Reiselust. Stanišić bewegt sich vielmehr mühelos in den unterschiedlichsten Milieus und Gefilden, und am ehesten lassen sich seine Geschichten der Abenteuerliteratur zuordnen, Große-Jungs-Abenteuerliteratur möchte man sagen. Und sei solch ein Abenteuer auch die Verweigerung des Abenteuerlichen wie bei dem Jungen in einer Geschichte, der nicht ins Ferienlager fahren will, weil er Folienkartoffeln kategorisch ablehnt, wie er sagt, Bäume nur als Schrank "super" findet und lieber über Abenteuer liest, als welche zu erleben.

Abgründiger wird es, wenn Stanišić über eine verlassene Fabrik im ehemaligen Jugoslawien schreibt, die für kurze Zeit einmal eine EU-finanzierte Traumfabrik war, oder wenn er den interkulturellen Dialog an einer Gruppe von Migranten in einem Billardsalon exemplifiziert. Mehrere Geschichten führen den Ich-Erzähler und seinen Freund Mo an höchst seltsame Orte. Einmal entern sie ein Floß am Ufer des Rheins, auf dem eine Gruppe von Menschenrechtsaktivisten zusammengekommen ist, und wünschen sich, der Fluss würde "dem milden Wetter eine schallende Ohrfeige knallen" - wobei das selbstgerechte Gesprächsklima der versammelten Weltverbesserer durchaus als Teil dieser falschen Milde zu verstehen ist. Ein anderes Mal kapern sie eine Vernissage in Stockholm, wo ein syrischer Flüchtling über den angeblichen Bombentod seiner Kinder spricht, die jedoch im Hinterzimmer friedlich schlafen.

Auch die letzte und schönste Geschichte in diesem Band ist eine Reise- und trügerisch leichte Sommergeschichte. Ein paar Freunde sind unterwegs in Frankreich, aber in die Heiterkeit mischen sich Erinnerungen des Erzählers an den bosnischen Großvater. Einst hatte ihm dieser Großvater die Angst vor dem Wasser genommen, dem Fluss, an dessen Ufer der Vater spurlos verschwand und der den Jungen später über vier Grenzen in die Fremde trug. Die Beiläufigkeit, mit der Stanišić eine Geschichte über erlittene Verluste im Innenfutter einer lässigen Burleske versteckt, beweist das Format dieses Erzählers. Die Geschichten von Saša Stanišić sind aus Sprache, Mut und Zauberei gemacht. Dieser Autor besitzt mehr als nur eine magische Kiste, ihm steht ein ganzes Sägewerk der Magie zu Gebote.

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SZ vom 28.05.2016/cag
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