Belletristik:Für immer im Licht

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Lyrische Sumpfblüten: Die schwedische Schriftstellerin Sara Stridsberg erzählt von ihrer Familie.

Von Thomas Steinfeld

Im Westen Stockholms, nicht weit vom Flughafen Bromma, lag zwischen 1932 und 1995 eine der größten psychiatrischen Kliniken Europas, die Anstalt Beckomberga. Errichtet im Geist und im Stil der frühen skandinavischen Moderne, beherbergte das Krankenhaus zu Zeiten mehrere Tausend Männer und Frauen. Es waren berühmte Menschen darunter: die Malerin Sigrid Hjertén, die im Jahr 1948 in der Anstalt an den Folgen einer missglückten Lobotomie starb, der Tenor Jussi Björling, der sich, depressiv und alkoholabhängig, mehrmals selber einlieferte, die Lyrikerin Nelly Sachs, die einen großen Teil ihrer späten Jahre hier verbrachte. Zu den Patienten gehörte auch ein Mann, den die schwedische Schriftstellerin Sara Stridsberg in ihrem autobiografisch inspirierten Roman "Das große Herz" mit "Jim" anspricht: Hinter dieser Gestalt verbirgt sich, in welcher Verwandlung auch immer, ihr Vater.

In wenigen Jahren ist Sara Stridsberg, geboren 1972, zu einer der bekanntesten Schriftstellerinnen Schwedens geworden, auch in anderen Ländern. Sie wurde es mit drei Romanen, die historischen Figuren gelten: In "Happy Sally" (2004, nicht ins Deutsche übersetzt) ist es die Schwimmerin Sally Bauer, die 1939 den Ärmelkanal durchquerte; in "Traumfabrik" (2006, deutsch 2010) die Autorin Valerie Solanas, die 1968 auf Andy Warhol geschossen hatte; in "Darling River" (2010, deutsch 2013) Vladimir Nabokov, der sie hauptsächlich als Autor von "Lolita" interessiert.

Gemeinsam ist diesen Büchern, dass sie wie Spiegelkabinette um ihre Zentralgestalten herum gebaut sind, als lange Folgen von Reflexionen, in denen sich Dokumentation und Fiktion mischen, in immer wieder neu ansetzenden Versuchen, dem Inneren eines außergewöhnlichen und auf irgendeine Weise gefährdeten Menschen nahezukommen, unter besonderer Berücksichtigung von Gewalt, Wahn und großer Mengen von Einsamkeit und Weltschmerz. Daneben publizierte Sara Stridsberg eine Reihe von Theaterstücken, die gelegentlich denselben Gegenständen wie die Romane gewidmet sind. Vor einem Jahr wurde sie in die Schwedische Akademie aufgenommen, in die Institution, die den Nobelpreis für Literatur vergibt.

Die psychiatrische Klinik, als Heimat betrachtet - ein Fall von angewandter Normkritik?

Einem Außenseiter gilt auch "Das große Herz", der vierte Roman. Im schwedischen Original trägt das Buch den Untertitel "Ode till min familj", "Ode an meine Familie", auch wenn deren Geschichte so erhaben nicht ist und die Genrebezeichnung "Elegie" passender gewesen wäre. Erzählt wird von eben jenem Vater, einem Alkoholiker, der immer wieder Selbstmord begehen will, aber dann offenbar doch alt wird. Seine Frau ist stets auf Reisen, die heranwachsende Tochter Jackie - sie tritt als Erzählerin der meisten Fragmente auf, aus denen das Buch besteht, besucht den Vater jeden Tag in der Klinik, auch wenn dieser sie gar nicht treffen will oder kann. Beckomberga wird zu einer Heimat, zu einem geschützten Raum, so wie er für die dort Lebenden zu einer Bastion wider das Draußen geworden ist: für den großen Paul, der zum Liebhaber Jackies wird, für die Stationsschwester Inger Vogel, für Olof, den letzten Patienten (der sich tötet, als er die Anstalt verlassen muss), für den Oberarzt Edvard Vinterson.

Eine seltsame Klinik ist dieses Beckomberga, fern dessen, was man ansonsten über psychiatrische Kliniken erfährt, "ein Palast für die Entstellten und Hoffnungslosen, wo sie im trüben Licht umhertaumeln dürfen, einsam, eingesperrt, vergessen".

An der Wirklichkeit ist Beckomberga daher nicht zu messen. Die Klinik ist in diesem Roman eine Fantasie der schwarzen Romantik, und die Figuren, die sich darin herumtreiben, sind keine Patienten und keine Pfleger, sondern Idealtypen einer poetisierenden Weltanschauung, die glaubt, es entstünde Dichtung, wenn man möglichst viele schöne Metaphern mit möglichst vielen schaurigen Ankündigungen mischt. Gewiss, in guten Momenten erinnert dieses Buch an den Debütroman von Emmanuel Bove, an "Meine Freunde" (1924), im Verfahren nämlich, die Außenwelt der Figuren so zu beschreiben, dass sie von der Innenwelt nicht zu unterscheiden ist. Doch benutzt Emmanuel Bove diese Technik, um Menschen zu schildern, denen ihre gesellschaftliche Identität abhandenkommt. Hier aber, bei Sara Stridsberg, soll ein Übermaß an Metaphern und anderen Vergleichen der Charakterisierung von Gestalten dienen, an denen der Leser ein besonderes Interesse nehmen soll: "Ich dachte", notiert die Erzählerin am Ende, "mein Blick könnte sie für immer im Licht halten." Poetisch wie logisch aber ist diese Erzählhaltung ein Irrtum, aus dem nicht Dichtung entsteht, sondern eine kunstreligiöse Schwärmerei für Dichtung. Und die Gestalten, denen dieses Spektakel gewidmet sein soll, bleiben hohl.

Das Ergebnis klingt dann so: "Dieses schöne, beängstigende Licht, das überfloss und die Nacht um ihn erleuchtete und eine besondere Intensität und Rücksichtslosigkeit offenbarte, etwas Unaufhaltsames, ein wildes Feuer oder einen Abgrund." Oder so: "Angeblich kehren nach wie vor Patienten in den Glockenhauspark bei Beckomberga zurück, man sagt, sie würden unter den Bäumen stehen, die Hände gegen die verblichene Fassade gepresst. Als schlüge drinnen noch immer das Herz einer Institution, ein schwacher Puls unter meiner Hand, wenn ich die gedämpfte, blutrote Farbe der Fassade berühre."

Kaum erscheint ein Ding in diesem Buch, ein Mensch, kaum passiert etwas, wird der Einfall schon unter Zentnern lyrischer Sumpfblüten begraben. Dazwischen fallen Sentenzen, die wirken, als versuche jemand, ewige Botschaften aus Zimtschnecken hervorzulocken: "Jeder Engel ist ein schrecklicher Engel", lautet ein solcher Satz, "das großartige Europa verwandelt sich in den Hinterhof der Welt" ein anderer. "Manchmal", schreibt die Erzählerin, "kommt mir der Gedanke, dass die Zeit von Beckomberga mit der Zeit des Wohlfahrtsstaates zusammenfällt."

Das ist zwar keine große Erkenntnis, aber sie trifft zu: Die psychiatrische Anstalt ist die andere Seite eines Ideals von gesellschaftlicher Ordnung, in der keine Seele verloren gehen sollte - und alle schrägen Geister gründlich beaufsichtigt, wenn nicht gebändigt zu werden hatten. Deswegen spielt die psychiatrische Anstalt eine so große Rolle in der Literatur des 20. Jahrhunderts, oft als Ort schlimmster Repressionen (Rainald Goetz: "Irre", 1983), manchmal als Zufluchtsort eines Wahns, in dem sich wahres Menschsein verbergen soll (Ken Kesey: "Einer flog über das Kuckucksnest", 1962). Sara Stridsberg nun gibt der Literaturgeschichte des Irrenhauses eine neue Wendung: zur Heimstätte des kapriziösen Kitsches.

© SZ vom 17.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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