Belletristik:Das dritte Leben

Charles Lewinsky klont in seinem arg spekulativen Roman "Andersen" einen NS-Verbrecher. Doch was das Monsterbaby im Dienste des Bösen erwartet, ist trotzdem unterhaltsam zu lesen.

Von Christoph Bartmann

Man hat schon gehört von NaziTätern, die nach dem Krieg mit neuem Namen und frisierter Biografie ein zweites Leben starteten, enttarnt vielleicht erst nach dem Ableben. Noch nicht gehört hat man hingegen von einem Fall wie diesem: Ein vormaliger NS-Folterknecht erfindet sich zunächst als Lebensmittelunternehmer neu, um schließlich im Mutterleib ein drittes Leben zu beginnen, körperlich ein Fötus, doch mental ein böser alter Mann. Wie kann man durch drei Verkörperungen und schon gar eine solche Kindwerdung hindurch derselbe bleiben?

Andersen, der Mann, der als Kind nun Jonas heißt und der als Verhörexperte noch mal ganz anders hieß, gibt dem Leser Rätsel auf. Der Schweizer Autor Charles Lewinsky hat zu ihrer Lösung nichts Substanzielles beizutragen. Wie ist dem alten Andersen der Transfer, die Flucht oder was immer in Helenes Bauch gelungen, wo er nun, chronisch missmutig und intellektuell unterfordert, seine erneute Ankunft auf der Erde erwartet? Viel hält sich der Romanheld auf sein gutes Gedächtnis zugute, er kann sich zwar an alle Oberstudienräte seiner Schulzeit erinnern, aber wie vielen Kriegsverbrechern fallen auch ihm die entscheidenden Sachverhalte nicht ein. Wirklicher Aufschluss über das Geheimnis von Andersens Wiedergeburt wird uns nicht gewährt. Wie auch, denn von den vielen glaubhaften Maskeraden dieses Romans ist dies die eine, die es nicht geben kann. Lewinsky hat sich eine wahrlich außerordentliche Erzählerfigur und -position ausgedacht: ein pränatales Monsterbaby, das um Worte, Meinungen und Urteile nie verlegen ist.

Belletristik: Charles Lewinsky schuf ein pränatales Monsterbaby, das um Worte, Meinungen und Urteile nie verlegen ist.

Charles Lewinsky schuf ein pränatales Monsterbaby, das um Worte, Meinungen und Urteile nie verlegen ist.

(Foto: Lukas Maeder)

Dieser Andersen zählt gewiss zu den unerfreulichsten Figuren der Gegenwartsliteratur

Ziemlich ausgedacht kommt einem dann auch der ganze Roman vor, kühn ausgedacht zwar, aber auch arg konstruiert. Man muss sich mit Unwahrscheinlichkeiten anfreunden, wenn man an "Andersen" Freude haben will. In seinem ersten Leben, vor Andersen, war Andersen, sofern seinem Bericht zu trauen ist, ein Zyniker und Manipulator vor dem Herrn, ein Meister der psychologischen Kriegsführung, ein Sadist und Biedermann, nichts Geringeres als die Inkarnation des Bösen. Über die tatsächlichen Begleitumstände seines Tuns erfährt man wenig. Wo, für wen und in welcher Funktion hat Proto-Andersen seine bösen Werke verrichtet? Das scheint nicht die Art von Frage zu sein, die Lewinsky interessiert.

Das Vorleben seines Protagonisten bleibt im Nebel, manches wird überpedantisch memoriert, anderes weiträumig ausgeblendet, und wenn der Erzähler sich nicht erinnern mag, lautet die Begründung, dass er sich ein halbes Leben lang versteckt hat: "Ich hatte mir fest vorgenommen", heißt es einmal, "alles, was vor Andersen war, zu verstecken, es endgültig verschwinden zu lassen, sogar vor mir selber. Ist mir das zu gut gelungen? Erinnere ich mich in diesem Leben daran, weil ich es im letzten Leben so gründlich vergessen habe?" In seinen Verkörperungen ist sich Andersen allen Gedächtnislücken zum Trotz doch stets treu geblieben: als Menschenfeind, oder eine Etage niedriger, als Ekelpaket. Ob er nun wirklich "das Böse", was immer genau damit sein mag, repräsentiert, kann man bestreiten. Fest steht, dass Charles Lewinsky in dem Mann, der Andersen wurde und nun als Jonas noch einmal heranwächst, eine der unerfreulichsten Romanfiguren der Gegenwart kreiert hat. Einen übellaunigen Besserwisser und Querulanten, der alles immer schon gewusst hat, der alles immer schon vorausberechnen kann, der (bis kurz vor dem Ende) von keinerlei menschlicher Regung befallen wird und der damit insgesamt vielleicht weniger als die Fleischwerdung des Bösen, sondern des Dumm-Schlauen zu bezeichnen wäre.

buchcover

Charles Lewinsky: Andersen. Roman. Verlag Nagel & Kimche, München 2016. 400 Seiten, 24,90 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Kein Wunder, möchte man sagen, bei diesen Eltern, die aber natürlich nicht wirklich die leiblichen Eltern sind, sondern sozusagen Leihvater und -mutter eines Homunculus. Denn sie geben sich - in den Kapiteln, in denen der Vater dem heranwachsenden Kind ein Tagebuch schreibt - ebenfalls als unerfreuliche Zeitgenossen zu erkennen. Arno, der Vater, ist im IT-Gewerbe tätig, womit hier eine gewisse emotionale Verkümmerung erklärt werden soll. Seine Spezialität ist der müde Witz, natürlich als Rollenprosa, aber trotzdem findet man auf den Seiten dieses Romans zu viele müde Witze (oder wie wollte man die Bezeichnung "Sigmunda Freud" für eine mit psychologischen Ratschlägen nervende Familienfreundin sonst klassifizieren?)

Im Umgang der Figuren, in ihren Rede- und Verhaltensweisen miteinander dominiert das Klischee: "Gestern Abend war Helene mit Max im Kino (ich werde nie verstehen, was Frauen an Hugh Grant finden), und ich hatte Kinderdienst." Frau + Kino = Hugh Grant, so geht es dahin, auch wenn man schon eine Weile begriffen hat, dass uns das Elternpaar nicht weiter zu interessieren hat. Bei allem, was an diesem Roman effektvoll und spannend "gemacht" ist, langweilt er in der Eindimensionalität seiner Weltwahrnehmung doch ganz erheblich.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Und wie geht es aus? Wenn man schon nicht erfährt, wie Jonas / Andersen in den Mutterleib gelangt ist, will man natürlich wissen, welcher Werdegang der dritten Existenz im Dienst des Bösen beschieden ist. Jedenfalls sticht der heranwachsende Jonas durch dieselbe Erfindungs-, Verwandlungs- und Durchsetzungsgabe heraus wie seine früheren Inkarnationen. Intelligenz und Kalkül sind dabei hilfreich, aber irgendwann kommt auch den Schlauesten das Leben dazwischen. Mit demselben Wort, mit dem der Roman angefangen hat, geht "Andersen" zu Ende und hat seine Leser nicht schlecht unterhalten, aber auch nicht wirklich befriedigt.

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