Süddeutsche Zeitung

Belletristik:Das braune Heft

Der österreichische Schriftsteller Paulus Hochgatterer ist auch Kinderpsychiater. Seiner Erzählung "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" merkt man diese Verbindung an.

Von Jörg Magenau

Wer erzählt, stellt Möglichkeiten bereit: So könnte es gewesen sein. Jede Geschichte interpretiert das Geschehene auf ihre Weise oder setzt ihr einen anderen Verlauf entgegen. Was gewesen ist, steht ja nicht fest, sondern hängt immer davon ab, was wir wahrnehmen und wie wir es interpretieren. So lässt sich Wirklichkeit erzählerisch bewältigen. Der österreichische Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer weiß das sehr genau, denn Erzählen ist das, was Psychiatrie und Literatur gemeinsam haben. Hochgatterers Literatur lebt sehr stark von den Erfahrungen, die er als Kinderpsychiater macht. Verstörte Kinder spielen in seinen Büchern immer wieder eine zentrale Rolle, ob es, wie in dem Kriminalroman "Das Matratzenhaus" um Kindesmissbrauch ging, oder, wie in "Die Süße des Lebens", um ein siebenjähriges Mädchen, das ein übel zugerichtetes Mordopfer findet und dadurch traumatisiert die Sprache verliert.

Auch in seiner neuen Erzählung "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" steht ein Mädchen im Mittelpunkt der Ereignisse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich-Erzählerin ist die dreizehnjährige Nelly, die zwar nicht aufgehört hat zu sprechen, aber ihr Gedächtnis verloren hat - oder das zumindest vorgibt. Ihre ganze Familie - so die Vermutung - kam im Oktober 1944 bei einem Bombenangriff der Alliierten auf die Nibelungen-Panzerwerke im niederösterreichischen St. Valentin ums Leben. Verstört, mit aufgerissenen Augen erschien sie ein paar Tage später auf einem Bauernhof in der Gegend, wurde dort aufgenommen und lebt seither - die Geschichte spielt dann im März und April 1945 - in der Familie mit fünf Töchtern. Der Sohn ist an der Front und längst tot, aber das haben die Eltern noch nicht erfahren.

Die Ereignisse kurz vor Kriegsende überschlagen sich, nachdem zunächst ein russischer Kriegsgefangener auftaucht und ebenfalls Asyl bekommt. Er ist Maler, Anhänger der Suprematismus, und er hat expressionistische Bilder bei sich, die offenbar aus dem Bestand von Hermann Göring stammen. Nelly ist fasziniert von diesem jungen Mann, der aber mit einer der Töchter des Hauses eine Romanze beginnt. Kurz darauf akquiriert ein deutscher Leutnant mit zwei Gefreiten den Bauernhof, entdeckt die russische Herkunft des geflüchteten Kriegsgefangenen und verhört ihn auf sardonische Weise. Die Szene erinnert an Quentin Tarantinos "Inglourious Bastards", wo Christoph Waltz eine ähnlich angelegte Figur spielt, und es ist klar, dass am Ende nur die Erschießung des Russen stehen kann.

Doch da bewährt sich das Erzählen als Widerstandsakt. Hochgatterer bietet gleich drei mögliche Ausgänge der Geschichte an. Er kann das, weil Nelly, seine Erzählerin, ein braunes Heft besitzt, in das sie ihre Versionen schreibt. Die sind als kleine, abgeschlossene auktoriale Erzählungen zwischen die in Ich-Form vorgetragenen Ereignisse eingefügt. So erfährt man zunächst von einem Nachbarn, der so verstört sei, dass er nicht mehr eingezogen werden konnte, nachdem sein kleiner Junge in einem Fluss ertrank. Die kurz darauf eingefügte Geschichte erzählt zunächst den Verlauf dieses Unglücks, aber im Konjunktiv: So wäre es am wahrscheinlichsten gewesen. Doch auf den schlechten Ausgang folgt ein alternatives, glücklicheres Ende, das als Fakt ins Recht gesetzt wird. Ganz ähnlich funktioniert die Geschichte vom "nicht erhängten Soldaten", so dass sich die vom "nicht erschossenen Suprematisten" aus der seriellen Logik ergibt. Wem das nichtgenügt, für den hat Hochgatterer noch eine "Geschichte vom glücklichen Ende" parat. So entsteht eine Erzählung mit verschiedenen Möglichkeits-Ebenen und parallelen Verläufen, die sich übereinander schichten. Sie sind alle gleich wahr, und tatsächlich ist ja auch das, was bloß möglich ist, Teil der Wirklichkeit.

Leseprobe

Einen Auszug aus der Erzählung stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

Das Mädchen Nelly mit dem braunen Heft, das durch den Gedächtnisverlust in der Gegenwart gefangen scheint, könnte den Romanen von Agota Kristof entsprungen sein, so nüchtern, angstlos und klug wie sie sich schreibend, erzählerisch neu zusammenfügt. Sie interessiert sich besonders für christliche Märtyrer, für Geschichten von Heiligen, denen die Haut abgezogen oder die Augen ausgestochen wurden. Dem setzt sie ihre Weltverbesserungsversuche entgegen. Das gute Ende, das sie aus jeder Geschichte herauswirtschaftet, ist literarische Traumabewältigung. Schließlich gibt es genau dafür die Literatur, dass sie die Möglichkeitsräume vergrößert.

Hochgatterer hat für dieses verstörte, zärtliche Mädchen eine behutsame, direkte Sprache gefunden, in der alle Gefühle unter einer dünnen Haut verborgen bleiben. "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" ist eine warmherzige, ermutigende Geschichte, die neben ein paar Nazibösewichtern vor allem menschliche Solidarität aufleuchten lässt. Das Gute würde in diesem Buch auch dann siegen, wenn die Geschichte schlecht endet, denn es ist die ganze Zeit über da.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2018
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