Beim wichtigsten Fotografen der Welt:Bilder einer Einstellung

Der Mann, der schneller reist als sein Jetlag: Mit dem Verleger Gerhard Steidl bei Karl Lagerfelds Haute-Couture-Show und in der kanadischen Welteinsamkeit von Robert Frank.

Alex Rühle

Der Hörer ist noch gar nicht ganz am Ohr, da knattert eine Stimme: "Gersteidlfüraxrühle." "Wie bitte?" Verärgert wiederholt die Stimme: "Gerhard Steidl für Alex Rühle." Steidl! Toll, endlich, aber ruft da jetzt sein Sekretär an, der einen durchstellt, oder was soll der nuschelige Halbsatz? Die Sekunde verdutzten Schweigens scheint die Stimme endgültig an den Rand der Geduld zu bringen: "Hallo!?!" "Ach, sind Sie"s selber? Guten Morgen, Herr Steidl." "Gut. Sie können mit. Ich fahre am Mittwoch, wir wären Freitagmittag wieder hier." "Oh, wunderbar. Aber . . . Sie wollen am Mittwoch nach Kanada fliegen und Freitagmittag wieder hier sein?" Steidl übergeht die Frage: "Haben Sie einen Schlafsack?" "Ja." "Isomatte?" "Ja." "Ist zwar wunderschön bei Frank, aber eine heillose Bruchbude." Zelten vor dem Haus von Robert Frank, unter einem kanadisch weiten Julihimmel! Bären! Atlantikrauschen! Und hinter einem, im graugrünen Fischerhaus, schläft die Legende. Großartige Vorstellung.

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Eine Woche zuvor stand da plötzlich dieser Karton, bedruckt mit den Worten "Robert Frank published by Steidl". Ein kleiner Prospekt schreibt was von Gesamtwerk, beim Öffnen fallen einem Filme entgegen, frühe Fotobände über Paris und Peru, Jack Kerouacs Text zu "Pull my Daisy", und dann "The Americans", der Band, der die Fotogeschichte für immer verändern sollte, 83 Bilder, durch die Frank "Amerikas konturlosen, unbehausten Existenzen erstmals eine Form gab," wie der Fotograf Joel Sternfeld schrieb. Frank war mit einem ruhigen, skeptischen, streckenweise vernichtend konzisen Blick durch 48 Staaten gefahren und kam mit 25 000 Aufnahmen zurück. Fotografien von Verlorenen in einem fahlen Land, ein schwarzer Priester, der am Mississippi auf einem Karton kniet und im Morgengrauen merkwürdige Rituale zu vollziehen scheint; spitzmündige Honoratioren in New Jersey, Jukeboxes in leerglänzenden Linoleumhallen, knochig-verhärmte Gesichter auf einer New Yorker Bank, ein schwarzes Paar in San Francisco, der Mann schaut wütend in die Kamera. Robert Frank bezeichnete dieses Foto einmal als sein Lieblingsbild, "weil der Mann mich so aggressiv ansah: Was willst Du, Fremder?"

Ähnlich aggressiv, fremd sah Frank damals auf dieses Land, zwei Jahre lang reiste er als dreifacher Außenseiter durch die Staaten, als Jude, als Schweizer, der erst seit acht Jahren in den USA lebte, und als New Yorker, der mit seiner kleinen Leica dieses riesige Land beschreiben wollte, "der graue Film, der den rosa Saft der Menschenart eingefangen hat", wie Kerouac im Vorwort dichten sollte. Auf dem letzten Bild sieht man eine lange Straße, am Rand ein schwarzes Auto, Franks Frau und die beiden kleinen Kinder schauen müde durch die Windschutzscheibe, die Frau, von der er sich später scheiden ließ, die Kinder, die beide längst tot sind. Nur das Buch lebt noch immer, es kam vor fünfzig Jahren auf den Markt und war ein Generalangriff auf das Bild, das Amerika sich von sich selber machte. Ein Kritiker schäumte damals, diese angeschnittenen, unterbelichteten Aufnahmen, die verkanteten Bildhorizonte und banalen Motive sähen aus wie ein Haufen Kinderfotos, die an der Straßenecke entwickelt wurden.

Dieses Buch also hat Gerhard Steidl neu aufgelegt, in enger Zusammenarbeit mit Frank: Der 84-Jährige kam nach Göttingen in den Verlag, suchte Papier und Einband aus, legte Bild für Bild noch mal die Ausschnitte fest, fügte zwei neue Bilder ein und wählte für das Buch ein kleineres Format als in den bisherigen Ausgaben. Wichtiger aber ist, dass Gerhard Steidl seit zwei Jahren alle paar Wochen nach New York fährt oder nach Mabou, in Franks melancholische Weltabgeschiedenheit, vier Stunden nördlich von Halifax, um mit dem 84-Jährigen noch mal all seine Werke herauszugeben, die frühen Sachen genauso wie die späten Filme. Was man gar nicht genug würdigen kann, denn Franks Gesamtwerk wird auf fast schon tragische Weise überstrahlt von dem einen großen Band. "Er selbst kann ja den alten Plunder nicht mehr sehen,", sagte Steidl noch vor dem Auflegen, "diesmal wird"s interessant, vier Bücher, zwei frühe Bände, späte Polaroids und Aufnahmen seines Vaters. Übrigens, Frank besuchen, schöne Idee, aber ich empfehle aus Gründen der Wahrheitsfindung, am Tag zuvor nach Paris mitzukommen, da sehen Sie die blutige Realität. Da verdiene ich das Geld, das ich für Frank zum Fenster rauswerfe."

Im Grand Palais ist es heiß, der Backstage-Bereich von Chanel summt von den Föns der Coiffeure, es riecht nach Haarspray, Plastik und Hormonen. Gerhard Steidl ist mit zwei Mitarbeitern nach Paris gereist, die beiden treideln im Kielwasser seiner Schritte mit, er redet mit ihnen in knappen Befehlen: Such mal Sophie, wo ist Karls Tüte. Auf die Frage, was seine Aufgabe sei, sagt sein Assistent Frank Hertel: "Zeit haben. Viel Zeit haben. Immer Zeit haben."

In zehn Minuten beginnt die Haute-Couture-Show mit Lagerfelds Herbstkollektion. Die Models hocken lustlos rum, zusammengeklappt wie hohe, leere Tetrapakschachteln, und daddeln an ihren Handys. Als Karl Lagerfeld den Raum betritt, merkt man das selbst, wenn man mit dem Rücken zu ihm steht, außer den Models richten sich alle nach ihm aus wie Metallspäne nach einem Magneten. Küsse flattern durch die Luft, geschmeidige Glieder fließen aneinander vorbei.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, ob Gerhard Steidl ein gutes Personengedächtnis hat.

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Gerhard Steidl taucht steil unter all dem Gebussel durch, bis er direkt vor Lagerfeld steht und ihm mit ausdrucksloser Miene den Andruck für einen kleinen Band mit Schwarzweiß-Fotografien vorblättert, "Abstract Architecture", Linien, Schatten, Fenster, Säulen. Die Show kann jeden Moment losgehen, aber jetzt ist erst mal dieses Buch dran.

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Zehn Minuten später bringen die Mädchen, die gerade noch mit diesem abgefuckt neurasthenischen Blick auf ihren Plastikstühlen herumlümmelten, ein Lächeln mit aus den Kulissen, als wüssten sie um alle Schönheit des Verfalls. Die Sonne gleißt durchs Glasdach, als würde sie, brennend vor Neugierde, mit einem Makroobjektiv hier reinstieren, jeder Strahl scharf gestellt, auf die staksigen Models und die Zuschauer, die sich mit Steidls Einladungskarten Luft zufächeln. Gerhard Steidl schaut ihnen zufrieden dabei zu: "Soll noch einer sagen, die papierlose Welt sei sinnvoll."

Acht bis 15 Tage im Monat nimmt die Arbeit für Chanel Steidl in Beschlag, er ist bei allen Mode-Shootings von Lagerfeld dabei, aber nach der Show hastet er ohne Blick an Claudia Schiffer vorbei, weil er Lagerfelds Assistenten den Andruck des neuen Katalogs zeigen möchte. Ob er denn ein gutes Personengedächtnis habe. "Überhaupt nicht, ein gutes Gedächtnis hab ich nur für Fotos, Papier und Schnipsel." Kurz darauf gibt er davon eine Probe: 12 Uhr, er ist verabredet in den Büros von Chanel, aber keiner ist da, wahrscheinlich feiert die Belegschaft erstmal bei einem guten Essen die Show. "Verabreden sie sich nie mit einem Franzosen zwischen 12 und drei," stöhnt Steidl. "Was die immer essen gehen, das treibt einen zum Wahnsinn."

In seinem Verlag hat Steidl vor Jahren schon einen Koch eingestellt. In "How to make a book with Steidl", dem verlagsinternen Handbuch für angehende Steidlkünstler, wird erklärt, der Grund dafür sei optimiertes Zeitmanagement: "Früher verließen die Künstler zum Essen immer das Gebäude; einige von ihnen mussten wir oft Stunden später in den umliegenden Kneipen suchen gehen. Jetzt darf niemand mehr das Haus verlassen - das Essen wird von unserem Küchenchef Rüdiger Schellong gekocht. Ich stelle mir unser Gebäude oft als U-Boot vor: Sobald alle an Bord sind, tauchen wir ab, und bis zum Ende der Reise gibt es weder frische Luft noch Tageslicht."

Jetzt steht der U-Boot-Kommandant im grellen Pariser Mittagslicht, ruft in Göttingen an und gibt ein Beispiel für sein Zettelgedächtnis: "Geh mal in mein Büro, stell dich vor den Schreibtisch. Links liegt ein Stapel, daneben liegen drei Plastiktüten. Die mittlere ist von Chanel; obenauf liegt eine Visitenkarte von Marie-Louise. Ja, ich hab"s eilig."

Da er"s eilig hat, da außerdem Robert Frank auf der anderen Seite des Atlantiks wartet, nur ein kursorischer Abriss dieses Restarbeitstages: Gelebter Virilio, das Ganze. Ein eigener Fahrer, an sechs verschiedenen Orten werden sechs neue Projekte besprochen, darunter der Katalog einer Doppel-Ausstellung: Amerika-Bilder von Henri Cartier-Bresson und Walker Evans werden einander gegenübergestellt, beim Durchblättern dieser streng kadrierten Bilder sieht man, wie skandalös neu Robert Franks Aufnahmen damals gewirkt haben müssen, diese wilden Snapshots, als habe er Amerika aus einem fahrenden Auto fotografiert.

Steidl bewegt sich durch Paris wie ein Fleisch gewordener Vektor, funkt permanent Anweisungen nach Göttingen und schwärmt von Lagerfeld, den er 2000 dazu überredete, gemeinsam den Verlag 7L zu gründen. Gegen zwei Uhr nachmittags sitzt Steidl im Laden dieses Verlags, zeigt einem Chanel-Mitarbeiter den Herbst-Katalog und beprasselt ihn mit Ausführungen zu Papiergewicht, Farbe und Aufhellung. Der Mann nickt alles eher nachlässig ab. Am Ende sagt Steidl: "The Paper. Smell it!" Der Mitarbeiter lässt die Nase vorsichtig über dem aufgeschlagenen Katalog kreisen. Steidl schnellt vor und hält sein ganzes Gesicht rein, zwischen die Seiten, wie in einen üppigen Ausschnitt, und saugt Luft ein. Als er wieder emportaucht, konstatiert er mit ausdrucksloser Miene: "Beautiful." In dem Moment kommt die Buchhändlerin angetippelt: "You know, this is a public space, I"m a little . . ." "Yes", bescheidet sie Steidl, "we"re ready in a minute."

Um sieben Uhr abends geht es mit einem Privatjet zurück nach Göttingen, die Maschine ist noch nicht in der Luft, da hat Steidl schon den Sitz zurückgeklappt, die Schlafbrille aufgesetzt und Ohropax in die Ohren gestopft.

Am nächsten Morgen geht der ICE um 5:50 Uhr von Göttingen, Steidl hat vorher zwei Stunden im Verlag alles klargemacht für seine Abwesenheit. An der Druckmaschine hängen Bogeneinteilungen für den Bildband "Movement" von Guido Mocafico sowie handschriftliche Zettel von Steidl: "Wenn es irgend geht, müssen wir auch am Sonntag drei Schichten machen. Bitte eintragen!" Die Maschine wird die nächsten Monate nonstop durchdrucken, Tag und Nacht. "Der Druckplan steht bis November 2009, der ist eng, da passt kein Blatt dazwischen."

Ein wunderschönes altes Fischerhaus, halbversunken im hohen Gras, graugrüne abgeblätterte Farbe, durch die offenen Fenster weht der Atlantikwind. Robert Frank steht vor den Pappeln, die er selber gepflanzt hat, die Hände tief in den Taschen, und schaut skeptisch wie der Schwarze auf dem Bild aus San Francisco: Was willst Du, Fremder?

Wir sind gerade angekommen, der Körper vibriert noch nach von der frenetischen Raserei, da sagt Steidl: "Ich habe eine schlechte Neuigkeit, ich muss morgen schon zurück." Frank grummelt: "Immerhin bleibst Du diesmal über Nacht."

Robert Frank zog sich Ende der sechziger Jahre in dieses Haus zurück, vor dem Kunstbetrieb, vor New Yorks Lärm, vor dem Ruhm. Vergebens. Frank ist der Säulenheilige der Fotografie, gerade weil er nichts wissen will von Verehrung und Standbildern. Jetzt, zum 50. Geburtstag von "The Americans", sind die Bücher, Filme, Ausstellungen kaum zu zählen. "Wie ermüdend das ist, wenn Leute immer noch eine Biographie über Robert schreiben", sagt Franks Frau, die Malerin June Leaf, zu Steidl. "Was für eine reine Idee, es so zu machen wie Du. Einfach möglichst schön sein Werk zu zeigen."

Als Frank durch Amerika fuhr, war Steidl fünf Jahre alt, ein dicker Junge, dem Appetithemmer verordnet wurden. Er war schlecht in der Schule, ein stummer Kummerkloß, fast wäre er auf die Sonderschule gekommen, bis eine Ärztin die Psychopharmaka absetzte. Danach wurde er aus dem Stand Klassenbester, der Sohn eines Hilfsarbeiters übersprang zwei Klassen, machte mit 17 Abitur und gründete 1968 seinen Verlag. Als er Frank den Herbst-Katalog überreicht, entdeckt der einen medaillenähnlichen Aufkleber, schaut in Steidls jungenhaftes Gesicht und sagt: "Wie? 40 Jahre machst Du das schon?" Dann blättert er das Programm durch, in dem seine eigenen Werke nur wenige Seiten ausmachen und auf seinem Gesicht spielen Konsterniertheit und Neugier ineinander, als er sagt: "Oh, Polidori. Sturges . . . Muss Spaß machen, all diese Bücher zu verlegen." Lagerfelds flach monotonen Porträtbilder eines Models zermalmt er geradezu mit seinem schweigenden Blick.

Als Frank die Ankündigung des Katalogs von Evans und Cartier-Bresson sieht, fragt er: "Hast Du Cartier-Bresson noch kennengelernt?" "Wir haben drei Bücher zusammen gemacht. Als ich ihm das dritte schickte, lag er seit zwei Tagen krank im Bett. Seine Frau zeigte ihm das Buch, er blätterte es durch, sagte ,Well done" und starb." Alle hatten mit einer freundlichen Anekdote gerechnet, jetzt steht plötzlich der Tod im Raum. Nach Sekunden des Schweigens lacht Frank grimmig: "Well, this will not happen here. Let"s work."

Lesen Sie auf der dritten Seite, warum Robert Franks späten Bilder so düster sind.

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Sie beginnen mit einer kleinen Box, sieben Heftchen mit Polaroidbildern aus den vergangenen Jahren. Frank blättert die leichten Heftchen durch, er lacht: "Macht Spaß, das anzuschauen, aber ich habe keine Ahnung, wer das kaufen soll." "Who cares," sagt Steidl. "Aber Du wolltest für das dritte Heft noch den roten Tisch photographieren." "Stimmt." Frank nimmt seine Polaroid-Kamera, macht ein Bild, legt die Kamera auf dem alten Ofen in der Mitte des Zimmers ab und sagt, als er den nostalgischen Schleier im Blick seines Besuchers sieht: "Einmal kam Walker Evans zu Besuch, 1972. Da saß er hier drei Tage rum und wartete auf das richtige Licht, um diesen Ofen zu fotografieren. War schon ein großer Fotograf. Aber was für ein furchtbarer Snob!" "Oh Robert", sagt seine Frau, "Walker war wunderbar." Darauf Frank: "Meine Frau ist ein unverbesserlicher Peacenik, oder noch schlimmer: ein Beatnik." "Nein, Du bist ein Redneck!" "Ich bleib" dabei, Evans was a snob. Wie er einen immer verbessert hat, wenn ein Wort nicht stimmte." Frank kippt vom Amerikanischen ins Hochdeutsche, durch das schwyzerdütsche Begriffe ragen wie Alpenfindlinge aus dem Präkambrium seines Lebens.

Später arbeiten die beiden in dem großen Raum unterm Dach. Hinter Frank hängt ein Ölbild an der Wand, eine Küste, Dünen, helle Farben. Das Bild hat ihm der Fotograf Hermann Seegesser geschenkt, einer seiner Lehrer, 1943, in Zürich. "Der muss gespürt haben, dass ich gehe. ,Das wird ein Teil von Dir sein", hat er gesagt. 1943! Wo ich als Jude keine Chance hatte, aus der Schweiz raus zu kommen." Das Bild war eines der wenigen Dinge, die Frank mitnahm, als er 1947 nach New York ging.

Frank schiebt ein paar Sedimentschichten auf dem Schreibtisch beiseite, Metallschachteln, Bücher, auf einem Stapel liegt das Foto eines kleinen Jungen mit Lachgrübchen, er scheint wild herumgerannt zu sein und hat ein Flügelhorn in der Hand. Es ist eine Aufnahme seines Sohnes Pablo, der in dem Film "Pull my daisy" mitspielt, diesem rohen, vitalen, surrealen Film von 1959, der die ganze Welt hochwerfen wollte, auf dass der Wind hindurchfährt.

Pablo hat sich 1994 umgebracht. Franks Tochter starb 1970 bei einem Flugzeugabsturz. Seine späteren Werke sind zu Teilen düstere Trauerarbeit, wildgraue Himmel, wenige Menschen, zerkratztes, geschundenes Material. "Familie", sagt Frank, und schiebt den Stapel weg, auf dem der kleine, lachende Pablo liegt, "Familie ist aus".

Jetzt ist sie wieder da. Steidl hat ihm seine Kindheit entwickelt, 515 Papierabzüge von Glasplattennegativen, die Franks Vater Henry Anfang der dreißiger Jahre gemacht hat. Steidl hat die Platten bei Frank unterm Bett entdeckt und sie ihm abgeschwatzt. Und der Zoll? Sagen die nichts, wenn Steidl ständig mit Originalen umherreist? "Bei Schwarzweißaufnahmen sage ich immer, das seien Bilder von meinem Vater, bei Farbe sage ich, das seien Knipsereien von mir."

Steidl zeigt Frank den Andruck von "Black, White, Things", einem Buch, das Frank 1952 gemacht hat und mit dem er sich erstmals auflehnte gegen die Biederkeit damaliger Fotobücher, "diese gottverdammten Geschichten mit Anfang und Ende", wie er zornig schrieb, all diese streng linearen, moralischen Fotoessays, die so taten, als ob Fotografie eine universelle Sprache sei, "die von allen, selbst von Kindern verstanden werde". Stattdessen ließ er in seinen Bildern Themen anklingen, ohne sie auszubuchstabieren. Man kann in das Bild der Prozession schwarzer Spanierinnen vor einer kreideverschmierten Wand Armut, Religiosität, Alter hineinlesen. Oder das Bild in Beziehung setzen zu dem nächsten, auf dem drei Banker energischen Schrittes durch London eilen. Man kann aber auch nur die Strukturähnlichkeiten genießen oder die merkwürdig graue Luft, die durch diese Bilder weht, sie funktionieren wie Gedichte, indem sie im Akt des Zeigens die Dinge verstecken.

Frank blättert den Andruck durch, stumm, zögernd, irgendetwas stimmt nicht, er blättert hin, er blättert her, fast missmutig. Steidl wartet, bis Frank mit peinlichem Bedauern sagt: "Schönes Papier, gut geworden, aber jetzt weiß ich, warum ich es für mein schwächstes Buch halte. Die Bilder sind zu groß." In dem Moment legt Steidl dem perplexen Frank einen um ein Drittel kleineren Andruck vor und sagt: "Fand ich auch. Zu sehr Coffee Table." Frank blättert die handlichere Version durch, hin und her, her und hin, immer wohler scheint er sich zu fühlen. "Das ist gut", knurrt er, "so muss das sein." Das dürfte Steidls Geheimnis sein. Er ist Drucker und Verleger in einer Person und wollte ursprünglich Fotograf werden. "You have eyes", sagt Frank, ein Zitat, Kerouacs Vorwort zu "The Americans" endete mit diesem Satz.

Die wenigen Porträts, die es über Steidl gibt, klingen immer nach einem Sonderling im weißen Kittel, einer Art hochbegabtem Papierhöhlenbewohner, der vor lauter Arbeit zu essen vergisst und den ganzen Tag durch die engen Gänge seines Verlags huscht. Er ist ja auch wahrlich keiner, der sich um Konzilianz bemüht. Günter Grass sagte mal, Steidl sei ein "Manchesterkapitalist, dem man Manieren beigebracht habe". Wenn man ihn mit seinen Mitarbeitern telefonieren hört, klingen die Ansagen oft derart unwirsch, alles Grüßen, jede Floskel wird beiseite gewischt, als räume er mit dem Unterarm einen Schreibtisch frei. Ein kurzer Befehl, schon ist das Telefon wieder zugeklappt. Man fragt sich, welche Manieren Grass gemeint haben könnte.

Hier aber, in der fast osmotischen Arbeit mit Frank, in diesem stundenlangen ruhig-einvernehmlichen Editionsgebastel, dem Reden über Leinenstrukturen, Papierarten, Schrifttypen, versteht man, warum die Künstler vor seinem Verlag Schlange stehen, ohne zu murren - es gibt eben nur die eine Druckmaschine, und da Steidl Verleger und Drucker in einer Person ist und den Ehrgeiz hat, jeden Bogen selbst zu kontrollieren, kann es dauern, bis man dran ist. Joel Sternfeld hat darüber mal sehr lustig geschrieben: "Wenn Sie ein Buch mit Steidl machen, dann hören Sie besser schon vorher damit auf, sich selbst für einen wichtigen Fotografen zu halten. Stellen Sie sich lieber vor, Sie sind ein Pilot. Ein Pilot, der sich am Tag vor Weihnachten, in der größten Rush Hour des Jahres, dem Flughafen von New York nähert. Sie wissen doch selbst, dass sie unter solchen Umständen nicht sofort landen können, also ziehen Sie in der Warteschleife Kreise. Und noch mehr Kreise. Wenn Ihnen dann das Benzin ausgeht und Sie wirklich Gefahr laufen, jede Sekunde in den East River zu stürzen, können Sie uns rufen, dann bringen wir Sie sicher runter. Wenn Sie dann erst mal hier sind, werden Sie dafür auch ganz sicher das einzige Flugzeug sein, wir werden Sie schnell neu betanken, und Sie werden am Ende ein leuchtend schimmerndes neues Buch unter dem Arm haben."

Die Flugzeug- und Flughafenmetapher ist auch deshalb so gut gewählt, weil Steidls Erfolg mit seinem frenetischen Reisen zu tun hat. Privatflieger, ICE, Jumbo, Mietwagen; Paris-Göttingen-Frankfurt-London-Halifax-Mabou, alles in 24 Stunden - nach einigen Tagen mit ihm hat man den Eindruck, schneller unterwegs zu sein als die Zeit, dem eigenen Leben voraus zu sein. Er fliegt mehr als 300 000 Meilen im Jahr, und dann gibt es noch den "Road Jet", einen Audi, dessen Beifahrersitz und Rückbank ausgebaut wurden, damit Platz ist für einen Flugsessel der Business Class, den man zum Bett umfunktionieren kann, "da haben wir die Scheiben komplett abgedunkelt, herrlich zum Schlafen."

Für Nichtgeübte ist das freilich ein stroboskophaftes Erlebnis. Am dritten Tag der Reise fangen in Mabou die Doppelbelichtungen im Kopf an: Als sei die eigene Festplatte voll, schieben sich vor die ruhige Szenerie von Nova Scotia hektische Snapshots aus Paris. Als Frank so dasitzt im silbrigen Gegenlicht, im ollen Pulli, um sich herum ein unsichtbarer Altersspinnweb aus blinzelnder Erinnerung und grantiger Ironie, auf dem Tisch die Cola-Flasche, ist da wieder das Bild von dem livrierten Diener, der 36 Stunden zuvor kerzengerade hinter Karl Lagerfeld herlief, mit nichts als einem Glas Cola auf einem schwarzen Tablett.

Ganz am Ende, sie haben gerade den Andruck des vierten Buches zugeklappt, fällt Steidl das linke Glas aus der gerade gekauften Brille. Sogar die Brillengläser verlieren die Fassung bei dem Arbeitspensum dieses Mannes. Es ist halb drei Uhr nachmittags, Frank und Steidl sind plötzlich fertig mit dem Gesamtwerk, jetzt muss es nur noch gedruckt werden. Blaue Luft hängt über der Bucht, eine kurze Verabschiedung im hohen Gras, June Leaf sagt, Steidl solle doch wenigstens noch kurz zum Hafen runterfahren. Also fährt Steidl eben kurz zum Hafen, wo er ein paar Minuten rumsteht wie ein Koffer, zwischen grünen Netzen, aus denen es nach Fisch und Meer riecht, dann muss er einfach los, obwohl sein Flugzeug erst in acht Stunden geht.

Als der kanadische Jetlag dann Freitagnacht um Franks Hütte wehte, um die zwei Deutschen heimzusuchen, waren die längst wieder zu Hause, der eine im Roadjet auf dem Weg nach Göttingen, um das ganze Wochenende hindurch zu drucken und Druck zu machen, der andere im ICE, wo er in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel.

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