Bei Ling: Der Freiheit geopfert:Bevor deine Asche im Grab versinkt

Zum 55. Geburtstag erhält Nobelpreisträger Liu Xiaobo ein besonderes Geschenk: Seinem Freund Bei Ling ist eine bewegende Biografie über den inhaftieten chinesischen Dissidenten gelungen.

Alex Rühle

Am Dienstag dieser Woche wurde Liu Xiaobo 55 Jahre alt. Es war der dritte Geburtstag in Folge, den der Friedensnobelpreisträger in einem Gefängnis verbracht hat. Bis zur Verleihung des Preises durfte sich wenigstens noch seine Frau einmal im Monat in Peking in den Zug setzen, um ihn in der 500 Kilometer entfernten Strafanstalt Jinzhou zu besuchen. Seit einigen Wochen aber ist er völlig isoliert: Keine Briefe, keine Besuche, nichts. So wird er auch nicht mitbekommen haben, welch schönes Geschenk ihm sein ferner Freund Bei Ling zum Geburtstag gemacht hat.

liu xiaobo

Bilder von ihm sind rar. In Hongkong trägt eine Demonstrantin ein Plakat mit einem Foto des seit Jahren inhaftierten chinesischen Systemkritikers Liu Xiaobo.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der in Boston und Taiwan lebende Exil-Dichter hat soeben im deutschen Riva-Verlag die erste Biographie Liu Xiaobos veröffentlicht. Das Buch ist in den Wochen zwischen der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises und der Verleihung entstanden, Bei Ling hatte für die Niederschrift also gerade mal zwei Monate Zeit. Teilweise merkt man das, es gibt Brüche und Wiederholungen, und oft enden Absätze mit formelhaften Sätzen wie "Liu hielt Vorträge über Literatur und trug zum akademischen Leben und Unterricht bei." Dennoch ist es beeindruckend, was für eine tiefenscharfe Biographie Bei Ling in der kurzen Zeit gelungen ist.

Man spürt, wie nah sich der Nobelpreisträger und sein Autor sind und wie schwer es sein muss, mit dem eigenen Lebensentwurf neben einem Menschen zu bestehen, dessen Mut zuweilen wie eine blinde Schleuder wirkt, die Liu in immer neue Extremsituationen katapultiert. Die beiden lernten sich 1986 kennen, in Peking, wo Liu damals seine Doktorarbeit in Literaturwissenschaften schrieb und Bei Ling als Untergrundpoet lebte. Liu war damals über Nacht zum Star geworden, weil er auf einem Kongress die gesamte zeitgenössische chinesische Literatur als leisetreterisch, konformistisch und medioker gebrandmarkt hatte.

Auf die Frage, ob er mit seinen extrem scharfen Thesen nicht übertreibe, sagte er damals, es bemerke einen nun mal niemand, "wenn du nur ein Fenster aufmachst. Du musst schon das ganze Haus abreißen, bevor dich irgendjemand wahrnimmt." Der Wunsch, berühmt zu sein, das egozentrische Kalkül, müssen gerade in jungen Jahren sehr stark gewesen sein. Zumindest zeichnet Bei Ling das Bild eines Menschen, dem es zu Beginn seiner Dissidentenkarriere genau so sehr um Aufmerksamkeitsstragien und sein Image wie um die hehre Sache ging.

Wobei das moralinsaure Wort hehr ohnehin nicht zu Liu Xiaobo passt. Fast scheint er triebgesteuert in seinem Widerstand: Obwohl er immer wieder ins Gefängnis muss, kann er nicht an sich halten, er muss Petitionen schreiben, Protest einlegen, mit dem Kopf durch die chinesische Mauer des Schweigens. Seine Freunde und seine Frau geben ihm irgendwann den Kosenamen Dummkopf, halb klingt das zärtlich, halb entnervt, ja verzweifelt darüber, dass er nicht damit aufhört, die Behörden zu reizen.

Im Frühjahr 1989 verbrachten Bei Ling und Liu Xiaobo gemeinsam einige Wochen in New York. Tagsüber streiften sie durch die Stadt, - Liu stets mit schwarzer Lederjacke, Jeans und Kippe im Mund - oder besuchten Ai Weiwei, der gestohlene Kameras weiterverkaufte, abends überlegten sie gemeinsam, eine Exilzeitschrift zu gründen. Es muss so anregend wie anstrengend mit ihm gewesen sein: "Er geht mir auf die Nerven, aber ich gehe auf ihn ein. Wenn du mit ihm beisammen bist, hast du auf keinen Fall Frieden. Du musst seinen Gedankensprüngen folgen, zuerst erklärt er dir Kant, dann springt er zu Camus, zitiert aus dem Mythos des Sisyphos und erzählt, dass er in seiner Pekinger Wohnung seiner Frau, seinem Sohn und den vier Wänden seine Lieblingsstellen aus den Werken europäischer Philosophen vortrage."

Erfahren Sie auf Seite 2 die Gründe für die Scham des Liu Xiaobo.

Bohnensortieren, Tag für Tag

Diese Seiten haben besonders im Rückblick etwas ausgelassen Juveniles, das Leben liegt vor ihnen wie ein schimmerndes, großes Versprechen: der Zeitschriftenplan, warum nicht Asyl beantragen - da sehen sie plötzlich im Fernsehen die Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Liu Xiaobo beschließt, sofort nach Hause zurückzukehren. Die daran anschließenden Kapitel sind das Herzstück des Buches, beschreiben sie doch die wohl einschneidendste Erfahrung im Leben Lius: Er wurde nach seiner Rückkehr gleich zu einer der wichtigsten Figuren des Protestes.

Die Wunden in seinem Leben

Am 2. Juni, die Unruhen flauten ab, der Kampf für mehr Demokratie schien verloren zu sein, immer mehr Militär wurde in und um Peking zusammengezogen, trat Liu Xiaobo zusammen mit zwei anderen Intellektuellen und dem taiwanesischen Sänger Hou Dejian für 48 Stunden in einen Hungerstreik, um die Studenten noch einmal anzufeuern. Im Nachhinein glaubte er, dass das die Behörden erst recht dazu gebracht habe, mit aller Härte durchzugreifen, weshalb er diesen Schritt bereute - es scheint eine der beiden Wunden in seinem Leben zu sein, die bis heute nicht verheilt sind.

Dabei hat er zwei Tage später, in der Nacht des 4. Juni 1989 wesentlich dazu beigetragen, dass auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst kein Mensch zu Schaden kam. Er konnte das Militär dazu überreden, die Studenten abziehen zu lassen, und die Studenten in letzter Minute dazu bringen, tatsächlich den Platz zu räumen. Nach der Niederschlagung wurde Liu als eine der Rädelsführer verhaftet. Nach eineinhalb Jahren schrieb er ein Schuldbekenntnis, das sich liest wie aus dem Roman "1984". Liu hatte für dieses Selbstbezichtigungspamphlet alle linientreuen Hetzartikel über sich gelesen und daraus eine Totalanklage formuliert.

Diese Schande scheint seither wie ein schwarzer Quell am Grund seiner Seele zu sprudeln, einmal sagte er, er würde noch mal ins Gefängnis gehen, nur um sich selbst für diesen Schritt zu bestrafen. Es kommen verschiedene Dinge zusammen: Die Scham, als berühmter Dissident im Gefängnis viel besser behandelt worden zu sein als andere; die Scham vor dem Verrat seiner Selbstbezichtigung; die Scham, in der Nacht des Massakers selbst vielleicht nur aufgrund seines Ruhms überlebt zu haben, während viele namenlose Demonstranten gestorben sind, so wie der Schüler Jiang Jielian, der an einer U-Bahnstation zusammen mit 35 anderen Menschen erschossen worden war. Nach seiner Freilassung freundete Liu sich mit den Eltern des Jungen an, dem er ein Gedicht widmete. In dessen Vorwort heißt es: "Gegenüber der Seele eines jungen Toten ist mein Überleben ein Verbrechen. Dass ich dir ein Gedicht schreibe, ist für mich beschämend. Die Lebenden sollen still sein und die Toten sprechen lassen."

Lius späteres Leben ist als eine Art permanente Abbitte zu lesen. Er setzte sich dafür ein, dass die "Mütter des Tian'anmen-Platzes", die Vereinigung der Hinterbliebenen, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird, und widmete seinen eigenen Preis den Opfern des Massakers. Er veröffentlichte in Taiwan den autobiographischen "Monolog eines Menschen, der den Untergang überlebte", auf dessen Umschlag der Satz prangt: "China, alles, was du hast, sind Lügen." Und er publizierte zu jedem Jahrestag des Massakers Texte, die so scharf, so unerbittlich mit sich selbst, mit der Regierung und mit all den prahlend selbstgefälligen Demonstrationsveteranen ins Gericht gingen, dass er sich zum einen in der Dissidentenszene viele Feinde machte und zum anderen zu drei Jahren Umerziehungslager verurteilt wurde: Bohnensortieren, Tag für Tag, bei möglichst schlechtem Licht, um seine Augen zu zerstören.

Abend für Abend schrieb er in diesem Lager für seine Frau Gedichte, die zum Erhabensten gehören könnten, was es in der chinesischen Literatur gäbe, hätte nicht die Staatssicherheit die meisten dieser Texte vernichtet. Ein Dreizeiler, der überlebt hat, lautet: "Bevor deine Asche im Grab versinkt, schreib mir damit einen Brief und vergiss deine Anschrift im Jenseits nicht."

BEI LING: Der Freiheit geopfert. Aus dem Chinesischen von Martin Winter, Yin Yan und Günther Klotz. Riva Verlag, München 2010. 384 Seiten, 19,95 Euro.

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