Beginn der Theatersaison 2012/13:Immer noch Sturm

Beschleunigung, Überforderung, Krise: Das Theater ist der Ort, an dem unsere "Müdigkeitsgesellschaft" zur Besinnung kommen soll. Ein Überblick über die Stücke und Themen der neuen Spielzeit.

Christine Dössel

Knut Weber, der Intendant des Theaters Ingolstadt, hat das Gefühl, wir seien "der Bewegung einer ungeheuren Beschleunigung unterworfen". Ein Zustand, den wir paradoxerweise als Stillstand erführen. Alles verändere sich rasend schnell, die Stadt, die Gesellschaft, die Welt - aber die Richtung bleibe unscharf: "Gehen wir voran? Zurück? Im Kreis?" Nur im Auge des Orkans sei es ruhig, menetekelt der Theatermann.

Theatersaison 2012/13

Der Vorhang für die Theatersaison 2012/13 hebt sich  nun - aus den Spielzeitheften springt einen Unbehagen an.

(Foto: dpa)

Weber steht mit diesem Gefühl des rasenden Stillstands nicht alleine da. Blättert man sich durch die Spielzeithefte der gerade beginnenden Theatersaison 2012/13, springt einen allenthalben ein Unbehagen an. Lars-Ole Walburg, Intendant in Hannover, attestiert unserer Zeit "Paralyse durch die Gegenwart, Verlust von Entwurfsfantasie". Zunehmend unübersichtlich wirke die Welt. "Schnell, für viele zu schnell, ziehen Ereignisse und Entwicklungen an uns vorüber." Und dann fällt das Wort, das wie eine ärztliche Diagnose stempelgleich auf dem Untersuchungsbefund für den Spielplan unserer Tage steht: "Überforderung".

Egal, ob der Konstanzer Intendant Christoph Nix fröstelnd den "Kältestrom des Kapitalismus" beschwört, die Badische Landesbühne Bruchsal in ihrem Spielzeit-Leitthema grundsätzlich danach fragt, wie wir leben wollen ("Wollen wir die Zukunft unserer Gesellschaft von den Märkten bestimmen lassen?") oder die Grazer Theaterchefin Anna Badora auf das Königreich Bhutan verweist, das als erstes Land das "Bruttoglücksprodukt" (statt: Bruttosozialprodukt) als Staatsziel in seiner Verfassung verankert hat - sie meinen alle dasselbe: Dass es an der Zeit ist, aufs Bremspedal zu treten, zur Besinnung zu kommen, dem druckvollen Schneller-Virtueller-Weiter unserer beschleunigten Leistungs- und Krisengesellschaft etwas entgegenzusetzen. Fragen zum Beispiel. Utopien. Oder Werte, die schon ein bisschen älter sind und länger Bestand haben als ein EuroBond.

Spielpläne auf diese Zeitdiagnostik zugeschnitten

Und auch darin scheint Einigkeit zu herrschen: Dass das Theater der ideale Ort für diese Art der Entschleunigung, Vergegenwärtigung, gesellschaftlichen (Selbst-)Vergewisserung ist. Dass es ein Ort der Reflexion und der Widerständigkeit ist. Als "Teil der Bürgerkultur und Marktplatz zeitgenössischer Ideen" rückt es der Hamburger Thalia-Intendant Joachim Lux ins Licht seiner Spielzeiteröffnung. Und Lars-Ole Walburg verweist darauf, dass das Theater zum Glück ein langsames Medium sei, der Hysterie der Schnelllebigkeit entziehe es sich: "Das gibt uns die Chance, ein Refugium zu schaffen. Ein Refugium der Zukunft."

Sie alle haben ihre Spielpläne auf diese Zeitdiagnostik zugeschnitten oder biegen sie zumindest erklärungstheoretisch darauf hin. Die großen Klassiker von Shakespeare, Kleist oder Schiller bieten Weltentwürfe und Inhalte genug, um sie auf Spielzeit-Leitlinie zu bringen. "Warte nicht auf bessere Zeiten!", prangt - ausgehend von Becketts "Warten auf Godot" - als motivischer Imperativ auf dem Jahresheft des Staatstheaters Mainz, dem mit Abstand größten und unhandlichsten Theatermagazin der Saison. Engagement wird da eingefordert: "Im Jetzt Verantwortung übernehmen!"

In leuchtendem Zitronenfaltergelb kommt das Cover des Bielefelder Hefts daher. Darauf: ein mahnender Zeigefinger nach oben und ein verdammender nach unten. Darüber steht in blauen Lettern das Bielefelder Spielzeit-Motto: "Erfolg". Das hängt vermutlich mit dem gleichnamigen 20er-Jahre-München-Roman von Lion Feuchtwanger zusammen, den sie auf die Bühne bringen. Intendant Michael Heicks wird in seinem Geleitwort aber gleich grundsätzlicher und schlägt angesichts des enormen Erfolgsdrucks in unserer Gesellschaft vor, "das Scheitern in den Erfolgsplan zu integrieren".

Der philosophische Schutzheilige der Dramaturgien ist derzeit nicht mehr der ohnehin überstrapazierte Giorgio Agamben, auch nicht Roland Barthes (obwohl der eigentlich immer geht) und auch nicht der von den Bühnen zuletzt schwer bemühte Peter Sloterdijk, sondern dessen ebenfalls in Karlsruhe lehrender Kollege Byung Chul Han. Der koreanische Philosoph und Medientheoretiker hat mit seinem Essay "Müdigkeitsgesellschaft" den Theatern gewissermaßen den Theorieteppich für ihre Spielzeitauftritte ausgelegt.

Das Deutsche Theater Göttingen bezieht sich in seiner Spielzeit-Überschrift "Bleibt alles anders" dezidiert auf Hans Bestandsaufnahme einer auf Effizienz getrimmten Leistungsgesellschaft mit ihrem Zwang zu Dauer-Aufmerksamkeit und Selbstoptimierung; das Deutsche Theater Berlin (DT) grundiert seinen sehr politisch um die Themen Macht, Gewalt und Demokratie kreisenden Spielplan mit einem Vortrag, den der Koreaner am DT gehalten hat ("Versuch über die Gewalt"); und am Badischen Staatstheater Karlsruhe bringt man die "Müdigkeitsgesellschaft" gleich ganz auf die Bühne - als sogenannte Uraufführung, gekoppelt mit Peter Handkes Band "Versuch über die Müdigkeit" (1989), auf den sich Byung Chul Hans Essay bezieht. Da geht es um die Utopie einer positiven, kontemplativen Müdigkeit. Oder, wie Handke schreibt: "Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, aber was gelassen werden kann."

Oft wenig geschmeidige Film- und Romanadaptionen

Was an den deutschsprachigen Theatern offenbar überhaupt nicht mehr gelassen werden kann - das zeigt schon das Karlsruher "Müdigkeits"-Unterfangen, flankiert von einer "Uraufführung" des kulturhistorischen Mammutwerks "Männerphantasien" von Klaus Theweleit -, das sind die leidigen, oft wenig geschmeidigen Film- und Romanadaptionen. Einen Trend kann man das kaum mehr nennen, dazu ist der episch inspirierte Bearbeitungsfreiheitsdrang viel zu lang schon viel zu beständig.

Sei es an der Berliner Schaubühne, wo Thomas Manns "Tod in Venedig" ansteht, oder am Hans Otto Theater Potsdam, wo Barbara Bürk sowohl Uwe Tellkamps politischen Zeitroman "Der Eisvogel" von 2005 in Szene setzt als auch des alten Baltenpreußen Eduard von Keyserling Ostsee-Roman "Wellen" von 1911; sei es in Dresden (Ingo Schulzes "Das Deutschlandgerät") oder Konstanz (Herta Müllers "Herztier") - landauf, landab gefallen sich Regisseure als Freibeuter im Prosabereich. Das Schauspiel Stuttgart zieht für Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" das Ballett mit hinzu, und in Freiburg machen sie aus dem Roman "Gottes kleiner Krieger" des indischen Autors Kiran Nagarkar, einer Auseinandersetzung mit Extremismus in Zeiten der Globalisierung, gleich eine Art Bollywood-Theater. Da geht aber noch mehr: In Zürich inszeniert Stefan Bachmann - wenn schon, denn schon - "Die Bibel, Teil 1", beginnend mit dem Buch "Genesis"; Ulrich Rasche in Stuttgart begibt sich gleich zur "Apokalypse".

Zu den Top-Stücken im Müdigkeitsgesellschaftstheater der kommenden Spielzeit zählt auf jeden Fall Ibsens "Volksfeind". Ob an der Schaubühne oder am Maxim Gorki Theater in Berlin, ob in Würzburg, Potsdam oder Meiningen - Ibsens Öko-Drama hat Konjunktur. Und auch seine "Hedda Gabler" wird - etwa am DT Berlin, am Münchner Residenztheater, in Heidelberg und Wien - wieder viel gespielt. Vielleicht, weil das Verhältnis von wirtschaftlicher Sicherheit und Freiheit, Wohlstandswunsch und Abstiegsangst, das dieses Stück anhand von Heddas trostloser Ehe verhandelt, genau in das wunde Herz der bürgerlichen Gesellschaft trifft.

Die Krise, längst angekommen im Gefühlskapitalismus

Auch der lange Zeit vernachlässigte Molière steht - besonders mit seinem "Menschenfeind" - jetzt wieder auf dem Spielplan, und zwar nicht nur an der Berliner Volksbühne (dort geballt), sondern auch in Zürich, München, Mannheim, Stuttgart. Ebenso populär in seiner Vorführung systemischer Willkür: Kafkas Romanfragment "Der Prozess" in allen möglichen Adaptionen (Düsseldorf, Mannheim, Erlangen, Bochum). Horváths "Kasimir und Karoline", geschrieben mit der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise von 1929, ist im Gegenwartstheater ohnehin ein Krisengewinnler. So wie auch Goethes "Faust I und II" mit seinem globalen Fortschrittsdrang und Weltstrebertum nicht fehlt - siehe Frankfurt, wo gleich der ganze Spielplan unter einem "Faust"-Schwerpunkt steht.

Auch in der zeitgenössischen Dramatik beherrscht die System- und Sinnkrise samt der Hybris des globalen Finanzkapitalismus die Inhalte. Elfriede Jelinek, von der in der kommenden Spielzeit gleich vier neue Texte uraufgeführt werden - darunter an den Münchner Kammerspielen ein Prunk-Stück über die dort vor der Tür verlaufende Maximilianstraße -, die unermüdliche Jelinek führt ihre Auseinandersetzung mit dem Bankenunwesen und dem Euro-Crash in ihrer Wortschwallsatire "Aber sicher!" fort (im März am Theater Bremen). In Nis-Momme Stockmanns groß angelegtem Stück "Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir" (Schauspiel Hannover) lässt ein erfolgreicher Banker sein Leben hinter sich und zieht in den Kampf gegen das System. Sein Plan: das Auslösen einer Hyperinflation. Auf seine Weise gegen das System kämpft auch der Titelheld in Dirk Lauckes als "Turbokomödie des Spät-Kapitalismus" angekündigtem Stück "Jimi Bowatski hat kein Schamgefühl" (Schauspielhaus Bochum). Der steht eines Tages mit einem Schweinebolzenschussgerät im Wohnzimmer seines Chefs und will seinen Job zurück.

Auf Motiven von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" basiert Albert Ostermaiers neues Stück "Ein Pfund Fleisch", das an diesem Freitag am Schauspielhaus Hamburg herauskommt. Auch das ein Drama über die Finanzkrise, oder wie es in der Ankündigung heißt: "über die Märkte als Männergesellschaft, über ein tödliches Spiel" - der Boxring ist dabei zugleich der "Trading Room", in dem Länder und Ökonomien zu Fall gebracht werden. Der Filmregisseur Andres Veiel wiederum nimmt sich in seiner zweiten Arbeit für das Theater - nach "Der Kick" von 2005 - das internationale Finanzsystem mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters vor. Für sein Stück "Das Himbeerreich" - eine Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit dem DT Berlin - hat er eine "umfangreiche Recherche" unter ehemaligen und noch aktiven Bankern angestellt, um anhand von deren Lebensgeschichten und Berichten eine Innenansicht der Bank- und Finanzwelt zu geben.

Beziehungsstücke gibt es schon auch noch

Eine ganz andere Innenansicht, nämlich die des Künstlers in der Krise, liefern die Erfolgsautoren Yasmina Reza und Daniel Kehlmann. In Rezas "Ihre Version des Spiels" (Uraufführung Anfang Oktober am DT Berlin) wird eine gefeierte Schriftstellerin bei einer Lesung in der Provinz völlig unverhofft auf sich selbst und den Kulturbetrieb zurückgeworfen. Und Kehlmann führt in "Der Mentor" (Uraufführung im November am Theater in der Josefstadt Wien) einen jungen Romanautor für ein gemeinsames Buchprojekt mit einer südamerikanischen Schriftsteller-Legende zusammen, was schiefgeht, denn: Sie kommen nicht miteinander aus.

Womit wir bei den Beziehungsstücken wären, die es schon auch noch gibt, sogar reich an der Zahl, schließlich ist die Liebe selbst dann noch ein Thema, wenn zwei derart gefühlsrational zu ihr auf Distanz gehen wie die Geisteswissenschaftler Grete und Jakob in Martin Heckmanns' neuem Werk "Einer und eine" (Nationaltheater Mannheim). "Am schwarzen See" der Schwarzseherin Dea Loher treffen zwei Paare aufeinander, die ein "schreckliches Ereignis" verbindet (DT Berlin). Und in Moritz Rinkes neuem Stück "Wir lieben und wissen nichts" (uraufgeführt im Dezember in Frankfurt, nachgespielt in Aachen, Bielefeld, Bern und Kassel) gehen die Beziehungsprobleme mit den Jobproblemen mobiler Großstadtnomaden einher.

Die Krise - sie ist längst angekommen im Gefühlskapitalismus heutiger Paar- und Familienbeziehungen. In "räuber. schuldengenital", einem Auftragswerk für das Wiener Burgtheater (deutsche Erstaufführung am Münchner Residenztheater), weiß der österreichische Autor Ewald Palmetshofer einen sprachgewitzten Abgesang darauf zu singen. Zwei Brüder, Karl und Franz - aus den "Räubern" -, kommen, um sich von den Alten ihr Erbe zu holen. Die aber lassen niemanden an die Restfleischtöpfe ran - und machen nur Schulden.

Die Krise, so scheint es, ist mit all ihren Müdigkeitserscheinungen und Kollateralschäden im deutschsprachigen Theater fürs Erste ganz gut aufgehoben. Wenn das Staatstheater Mainz am Ende der Saison dann noch ein spielerisches Experiment mit dem Titel "Der letzte Mensch von Europa" nachschiebt, in dem der ungarische Regie-Artist Viktor Bodó "Funktionsweisen unserer Gesellschaft" untersucht und auf der Bühne erprobt, "wie sich solche Systeme unter Druck und in sozialen Krisen entwickeln", dann könnte bis dahin vielleicht einiges gewonnen sein. Nicht, dass jemand vom Theater fertige Antworten, Rezepte oder gar Lösungen erwarten würde. Aber ein bisschen Sinn(lichkeit) und Besinnung, das schon. Und wer weiß - vielleicht findet der Zahlenanalyst Moritz in dem neuen Stück "Nullen und Einsen" des Mainzer Hausautors Philipp Löhle ja tatsächlich die geheime Formel, "die alles dreht". Einen neuen Algorithmus könnte unsere irre Welt ganz gut gebrauchen.

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