Der Verkehrsunfall, von dem dieser Nachmittag im Schwimmbad handelt, ist banal und monströs zugleich. Banal, weil die Geschichte, die uns Silvio Jagarinec erzählt, jedem passieren könnte, der ein Motorrad besteigt. Seine Kawasaki trägt ihn eines Tages aus der Kurve und schleudert ihn an die Leitplanke, das linke Bein ist zerfetzt. Das System der Rettung springt an, mit Kunst und Hightech-Apparaturen kämpfen die Ärzte um Jagarinec' Leben, am Ende müssen sie ihm beide Beine amputieren.
Der menschliche Körper ist verletzlich ‒ auch das ist eine banale Erkenntnis. Monströs aber ist der Strudel aus Schuldgefühlen, Scham und Zweifeln, in dem Silvios bisheriges Leben mit einem Schlag untergeht. "Gott hat mir klargemacht, dass das Wort 'Ich' unzulänglich ist", spricht er zu uns, ganz in Weiß gekleidet, auf seinen Beinprothesen. "Die angeborene Zuversicht, die in meinem Leben wächst, wird mit einem Mal von einem heftigen Ast zerschmettert. Wundert dich das? ‒ sagt Gott. Das geschieht mit denen, die die Menschlichkeit überwinden wollen ..."
Und schon hat Romeo Castellucci, wie er es immer tut, über alltäglichen Leiderfahrungen einen großen mythisch-philosophischen Raum aufgezogen. Für den italienischen Theatermacher ist Jagarinec nicht nur ein junger Mann aus Süddeutschland, der nach einem fast tödlichen Unfall mit seinem Leben klarkommen muss. Castellucci erkennt im Motorradfahrer einen Rebellen gegen den strafenden Gott ("Ich bin das Konterfei eines bestraften Menschen"), einen wie Prometheus. Im Mythos ist der Titan eigentlich ein Gott, steht aber auf Seiten der Menschen, stiehlt für sie das göttliche Feuer und muss dafür eine Ewigkeit in Ketten verbringen, während ihm ein Adler immer wieder die nachwachsende Leber heraushackt. Prometheus, der Lichtbringer und Künstler, der im Dienste der Menschheit leidet, das hat nicht nur Goethe und Shelley fasziniert, sondern auch Ludwig van Beethoven, der eine Melodie aus seinem Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" zum jubelnden Hauptthema im Finale der "Eroica", der Dritten Symphonie, machte.
Die Inszenierung spielt im stillgelegten Viktoriabad - alles weiß verhüllt, nur der Sprungturm ragt heraus
Nike Wagner wollte für ihr letztes Jahr als Intendantin des Bonner Beethovenfestes unbedingt einen "Prometheus" von Romeo Castellucci ‒ und sie bekam mit "Pavane für Prometheus" eines der schönsten und berührendsten Stücke ihrer achtjährigen Amtszeit. Der Schauplatz ist auratisch genug: das stillgelegte Viktoriabad im Zentrum von Bonn, eine Orgie aus hellblauen Fliesen mit einem feierlichen Polyesterfenster vom Architekten Gottfried Böhm. Castellucci aber ignoriert den Charme der 1960er-Jahre und lässt Becken und Böhm-Fenster mit weißen Tüchern verhängen, nur der Sprungturm ragt heraus. Wir stehen um den weißen Schlund herum, man ertrinkt fast im blendenden Weiß, fühlt sich in den Trockeneisnebeln und wabernden Elektronikklängen von Scott Gibbons nicht von dieser Welt. Und nur eine bedrohlich große Turbine lässt ahnen, dass hier einer die Götter herausfordert.
Jagarinec erzählt seine Unfallgeschichte mit heißem Atem; in den Bericht hat Claudia Castellucci, die Schwester und ständige Mitarbeiterin des Regisseurs, Anspielungen auf den Prometheus-Mythos gewoben. Aus der rauchenden Tiefe des Beckens taucht eine Tanzgruppe auf, acht Frauen in Motorradkluft, die sich meist in gemessenem Reigen bewegen und einmal zu einem unförmigen Berg von Leibern zusammenklumpen. Dass Castellucci solche Bewegungsgruppen liebt, hat er in seinem Salzburger "Don Giovanni" bewiesen ‒ in Bonn haben ihre Tänze etwas rührend Naives wie auf alten griechischen Vasen, ein Symbol der Menschlichkeit in der wesenlos weißen Unterwelt.
Der reale Jagarinec durchlebt die Stationen seiner Passion noch einmal. Er schnallt sich die Prothesen ab, robbt über den Boden, zeigt uns seine Hilflosigkeit. Castellucci, wie meist Stückerfinder, Regisseur und Ausstatter in einem, spielt mit den Motiven der Prometheus-Sage, zeigt die pathetische Auflehnung und die Demut. Das hat auch etwas Biblisches: Jagarinec ist Hiob, der verzweifelt um Erlösung ringt. Am Ende bekommt er sie. Mit vorsichtigen Schritten reiht er sich ein in die Tänze der Frauen, während das Sausen der Turbine sich mit Klängen aus Beethoven-Sinfonien zum ohrenbetäubenden Hymnus an das Leben und die Kunst mischt. Das ist ein utopischer Moment, in dem das Banale und das Monströse des Schicksals keine Rolle mehr spielen.