Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Lied der Frauen

Jede Musik ist ein Labyrinth, in das sich der Hörer auf immer zu verlieren droht. Das gilt für Beethovens Symphonien in der Klavierfassung wie für die Meditationen von Tigran Mansurian oder die Lieder op. 68 von Richard Strauss.

Von Wolfgang Schreiber

Wer Konzerte streamt und Musik von Platten hört, befindet sich notgedrungen im Disput um das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Der Philosoph Walter Benjamin bescheinigte mit dem Essay 1936 der Kunst den Zerfall der "Aura" - dank des Verlusts ihrer Einmaligkeit im intimen Hier und Jetzt des Sehens/Hörens. Es siegt die digitale Kulturtechnik.

Das führt mittelbar zu den neun alten Beethoven-Symphonien, im Reduktionsverfahren Franz Liszts der Klaviermaschine anvertraut, eine Art Vorahnung medialer Distanzkultur. "Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst", war sich Liszt im Vorwort zur Ausgabe seiner Klavierfassungen sicher. Das 19. Jahrhundert kannte ja nur Präsenzkonzerte, aber nicht jeder besaß zu Hause ein Symphonieorchester. Es gab nur die Noten und das Liszt-Dogma: "Das Klavier ist mir, was für den Seemann seine Fregatte." Die Tastenmanöver galten Beethoven. Pianist Hinrich Alpers, Jahrgang 1981, spielt die Symphonien nicht nur als virtuos skelettierende Kunststücke, vielmehr mit feinsten Abstufungen in Klang, Phrasierung und Transparenz. Dabei entsteht mehr als nur eine historische Kuriosität, plötzlich werden die Symphonien anders hör- und erlebbar, erscheint ihre Struktur bis in die Nebenstimmen hinein schärfer, plastischer, kantiger. Glenn Gould hatte das mit der Fünften und der Pastoral-Symphonie begonnen, Idil Biret, Cyprien Katsaris und Konstantin Scherbakow folgten mit allen neun. Bei Alpers wirkt der Trauermarsch der "Eroica" apathisch-untröstlich, das tobende Gewitter in der "Pastorale" noch aufgewühlter, die "Apotheose des Tanzes" der Siebten aber episch gebremst. Beim Götterfunken-Finale der Neunten ruft Alpers, anders als die Vorgänger, Schillers Text hinzu, ohne im Klang unterzugehen - dank des lichten Rias-Kammerchors und vier prächtiger Solo-Stimmen (Sony).

Klavierspiel aus Lust zur Transkription vollbringt die wilde schöne Georgierin Khatia Buniatishvili. Mit gefühlt Dutzenden Piècen durchstreift sie ein kulturphilosophisch aufgeladenes Abenteuer, genannt Labyrinth, den Irrgarten einer lose hingeblätterten Musikgeschichte, von Couperin und Scarlatti bis Glass und Pärt. Gibt sich gedankenvoll weitschweifend, introvertiert, musiziert welt- und selbstverliebt. Spielt in extrem romantisch-gedehnter Gefühlslage Brahms' Intermezzo in A-Dur op. 118, hetzt vierhändig - mit Schwester Gvantsa - durch Bachs "Badinerie" in eigener brillanter Bearbeitung, landet irgendwann beim hier längsten Stück, Arvo Pärts "Pari intervallo", einer Übung in brütendem Sinnieren. Vergisst weder ein Chopin-Nocturne noch Liszts "Consolation" oder Ligetis Etüde "Arc-en-ciel". Da fehlt nicht Erik Saties "Gymnopédie" und nicht John Cages Lautlos-Kanone "4'33". Und Serge Gainsbourgs "La Javanaise" steht für den Farbensinn der in Paris lebenden Pianofeuerwerkerin, die fürs Booklet ein poetisches "Labyrinth unseres Geistes" verabreicht (Sony).

In ganz anderen Klang- und Denkzonen siedelt die Musik des Komponisten Tigran Mansurian. Der 1939 geborene Armenier nannte sein Streichsextett, das von Schostakowitschs 13. Quartett inspiriert ist und hier den Horizont absteckt, Con anima. Dabei übernimmt Kim Kashkashian mit ihrer Bratsche, neben dem Geiger Movses Pogossian, das zentrale, einem schwermütigen Geist entwachsene Rollenspiel. Die alte heimische Tradition und Elemente westlicher Innovation fließen bei Mansurian, dem geistvollen Patrioten, gereift ineinander. Auch für sein Streichtrio und -quartett oder die Sonata da Chiesa gilt die Einschätzung von Elena Dubinets, wonach Mansurians Musik sich anfühle, "als sei sie behutsam in Stein gemeißelt". Mit kurzen, für Violine und Viola komponierten Anklängen an armenische Volkskunst, genannt "Die Tänzerin", kann sich der Komponist zu eleganter Beweglichkeit aufschwingen (ECM).

Zwei der berühmtesten Orchester-Poèmes des jungen Richard Strauss, der "Don Juan" sowie "Tod und Verklärung", musizieren Robin Ticciati und sein Deutsches Symphonie-Orchester Berlin erwartbar in der virtuosen Prachtentfaltung spätromantischen Glanzes. Aber das Ereignis hier, hellhörig zwischen beiden Tondichtungen platziert, sind die sechs Lieder op. 68 nach Gedichten Clemens Brentanos, die der 55-jährige Strauss unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg komponierte - als wolle er mithilfe der Poesie seinen Notruf senden aus der Kriegskatastrophe. Das beginnt mit der Hymne "An die Nacht", streift die "liebe Myrte" und den feurigen "Amor", endet bestürzend dramatisch bei dem großen "Lied der Frauen". Nämlich beim "politischen" Strauss: Louise Alders flammender Sopran beschwört fast im Elektra-Tonfall die tragische Rolle der Frauen, "wenn es stürmt auf den Wogen / strickt die Schifferin zu Haus"... Untergang, Verlust der Männer dort, Desaster, Unglück der Frauen hier. Tod und Verklärung folgen, mögen bitte heilen! (LINN).

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