Süddeutsche Zeitung

"Fidelio" im Beethoven-Jahr:Superwoman und die Liebe

  • Beethovens einzige Oper erzählt von der Überfrau Leonore, die als Mann Fidelio verkleidet ihren Gatten Florestan befreit, einen politischen Gefangenen.
  • Trotz seiner überwältigenden Musik ist die Oper bei Regisseuren nicht beliebt und missrät oft.
  • Das liegt an Schwächen des Librettos, das zwischen Spießertum, Frömmelei und übersteigerter, idealisierter Liebe schwankt.

Von Reinhard J. Brembeck

Im Kerker ist es dunkel, kalt und feucht. "Die Waffe hab ich mir nehmen lassen", klagt auf der Bühne eine Frau, die nach heutigem Verständnis eine Terroristin ist: "Oh Gott, Gott - In einem Augenblick die Frucht so vieler Bemühung verloren!" Aber dann wird, schließlich ist das Ganze eine Oper, alles sehr gut. Der C-Dur-Jubel will nicht enden, und das Ensemble versucht vergessen zu machen, dass die Frau mit der Pistole das Recht in die eigenen Hände genommen hat und bereit war, den korrupten, despotischen Gouverneur Sevillas über den Haufen zu schießen. Doch jetzt sind alle einander wieder zugetan, und die Terroristin wird per Überhöhung auf die einzig ihr zustehende Rolle zurechtgestutzt, auf die der unendlich liebenden Ehefrau.

In den nächsten Wochen gibt es "Fidelios" von Pappano, Petrenko und Christoph Waltz

"Fidelio", die einzige Oper Ludwig van Beethovens, erzählt von der Überfrau Leonore, die als Mann Fidelio verkleidet ihren Gatten Florestan befreit, der als politischer Gefangener im Gefängnis sitzt. Das Stück wird im Beethoven-Jubiläumsjahr (250. Geburtstag) vermehrt aufgeführt. In Wien kam an der Staatsoper gerade die selten gespielte Urfassung heraus, die jüngst auch René Jacobs auf CD herausgebracht hat (Harmonia Mundi). Am kommenden Wochenende dirigiert in London Antonio Pappano die üblicherweise gespielte dritte und finale Fassung (siehe nachstehendes Interview). Vor Ostern folgt der Dirigent Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern in Baden-Baden, und in knapp einem Monat zeigt der Schauspieler Christoph Waltz im Theater an der Wien seine Inszenierung, es ist seine dritte Opernregie.

Doch trotz der oft überwältigenden Musik ist das Stück bei den Regisseuren nicht besonders beliebt und missrät ihnen zudem meistens. Das verblüfft, hat aber nachvollziehbare Gründe. Verstörend ist das verwirrende Lavieren zwischen Freiheitssehnsucht, Rebellion und Opportunismus. Es ist sowohl die Folge der Zensur, die damals jede explizit politische Aussage unterband, als auch der Mittelmäßigkeit der Librettistentrias Jean-Nicolas Bouilly, Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke.

Das Gefängnispersonal ist bürgerlich bieder. Der Direktor und sein Gehilfe sind lebensnah gezeichnete Mitläufer und Opportunisten, Leonore und Florestan dagegen irreal idealistische Übermenschen: eine als Amazone agierende Penelope und eine christusartige Duldergestalt. Dagegen ist ihr fieser Gegenspieler Pizarro ein plakativ platter Bösewicht. Diese Gestalten sind so klischeehaft wie die Comichelden des Marvel-Universums, sie würden wunderbar in einen Schurkenheldenblockbuster passen. Zudem spielen in Form von Trompete, Schaufel, Dolch und Pistole recht profane Geräte eine handlungsbestimmende Rolle, was in befremdlichem Gegensatz zu den gefeierten großen Gefühlen steht.

Es gibt störende Brüche in der Konzeption der Titelheldin. Die Hausfrau Leonore muss aktiv werden, um ihren Mann Florestan aus dem Gefängnis zu befreien, dafür aber vom Piedestal der Madonnenikone herabsteigen, wie ihn Boccaccio in der letzten Novelle des "Decamerone" beschrieben hat, als Griselda jeden Übergriff ihres Gatten klaglos hinnimmt. Leonore nähert sich so den zwar selbstbestimmten, aber zugleich von ihren Schöpfern Euripides, Ariosto, Tasso verdammten Zauberinnen Alcina, Alceste und Medea an. Sie muss sich verstellen, sie muss täuschen: alles klassisch männliche Untugenden. Unter falschem Namen und als Mann macht sich Leonore an den Gefängnisdirektor und dessen schnell in sie verliebte Tochter Marzelline heran, die dem androgynen Reiz dieser Superwoman sofort erliegt. Zuletzt wird Leonores fanatische Liebe aberwitzig überhöht und zu einem für jede Normalfrau unerreichbaren Ideal stilisiert.

Es verwundert also nicht, dass der legendäre Regisseur Walter Felsenstein, der Begründer der Komischen Oper Berlin, Beethovens "Fidelio" für nicht inszenierbar hielt, jedenfalls nicht auf einer Bühne. Er rettete sich und das Stück 1956 in eine Verfilmung, die viel Biederbürgertum wegstrich und Leonore als eine gegen die Naziherrschaft rebellierende Heroine zeigte: die Freiheit auf den Barrikaden. So setzte Felsenstein zwar Beethovens Freiheitspathos grandios um, für die seltsame Dialektik zwischen Spießertum, Gläubigkeit und Aufruhr aber wollte und konnte er keine Bilder finden.

Wie in Wolfgang Amadeus Mozarts Opern "Die Entführung aus dem Serail" und "Die Zauberflöte" und Carl Maria von Webers "Freischütz" werden im "Fidelio" gesellschaftspolitische Umbruchsituationen beschrieben. Gemeinsam ist diesen vier deutschen Problemopern zudem, dass sie musikalisch reizvoll und deshalb populär sind, während über die Qualität ihrer Libretti heftig gestritten wird. Gerade die Sprechtexte sind ein riesiges Problem: Der ästhetische Bruch zwischen dem professionellen Gesang der Solisten und ihrem dilettantischen Sprechen belastet jede Produktion und jede Einspielung. Die Texte sind so ungelenk, dass sie oft durch Neudichtungen ersetzt werden.

Für die Wiener "Leonore" lieferte jetzt Moritz Rinke neue Texte. Da wird die Heldin durch eine Schauspielerin verdoppelt, die mit ihrem Alter Ego diskutiert. Durch solche neuen Textfassungen, Rinke bestätigt die Regel, vermehren sich aber nur die Probleme des "Fidelio", weil sie eine moderne Befindlichkeit in ein schwer verständliches Stück einschleusen. Eine extreme Lösung fanden Dirigent Rattle und Regisseur Nikolaus Lehnhoff, die 2003 in Salzburg die Sprechtexte strichen. Doch diese Musikalisierung war keine Lösung, sondern nur Feigheit und Flucht vor den Problemen.

Beethoven hat das Stück verändert: Mehr softer Idealismus, weniger brutale Vergeltung

Vom "Fidelio" gibt es drei Fassungen: die 1814 uraufgeführte und bis heute in der Regel gespielte Version, sowie die beiden von Beethoven "Leonore" genannte Varianten von 1805 und 1806, die weder Publikum noch Komponisten restlos befriedigten. Die erste Fassung, die jetzt erstmals an der Wiener Staatsoper gezeigt wurde, hat außer von René Jacobs auch Herbert Blomstedt vor 25 Jahren aufgenommen. John Eliot Gardiner hat 1997 eine furios dirigierte Mischung der frühen Fassungen vorgelegt, Nikolaus Harnoncourt konnte sich nur für die Finalfassung erwärmen, Marc Soustrot hat die völlig vernachlässigte zweite Version eingespielt.

Ein Vergleich der Fassungen ist ein Puzzle für Philologen. Beethoven hat im Laufe der Jahre einige Nummern weggelassen und manches, auch die großen Arien Leonores und Florestans, drastisch verändert. Er hat von drei auf zwei Akte gekürzt und dabei den parallelen, sich von Arie über Duett und Terzett zum Quartett steigernden Aufbau von Akt eins und drei zerstört. Vor allem aber hat er die Oper immer stärker auf ein idealistisches Thesenstück verknappt, das Leonore zur irrealen Ideal(haus)frau macht und die politischen Elemente reduziert. Ist also, wie René Jacobs im Beiheft seiner Aufnahme behauptet, die Ur-"Leonore" von 1805 die beste Version? Musikalisch hat Jacobs in fast jedem Takt recht. Doch den Regisseuren dürfte damit nicht geholfen sein.

Denn schon 1805 sind jene Probleme überdeutlich, die Regisseuren wie Publikum das Stück vergällen. Am Ende des ersten "Fidelio"-Akts müssen die ausnahmsweise ans Tageslicht gelassenen Gefangenen wieder hinab in ihre Verliese. Das ist als musikalische Klammer des Stücks bezwingend. Doch dieses elysisch getragene "Leb wohl, du warmes Sonnenlicht", das in der Ur-"Leonore" noch fehlt, erweckt vollends den Eindruck, dass im Sevillaner Gefängnis wider alle Wahrscheinlichkeit keine Mörder, Vergewaltiger und Diebe sitzen, sondern nur unschuldige und zutiefst gottesgläubige Opfer des Lokaltyrannen Pizarro. Durch diese zentrale Änderung schiebt Beethoven das Werk ein großes Stück in Richtung Idealismus, während im Originalschluss der Schuft Pizarro schnaubend Druck bei seinen Racheplänen macht. Brachiale Lust an der Vergeltung steht Schönfärberei gegenüber, packendes Musikdrama einer soft intonierten Ideologie. Operndramatisch ist das frühere Finale dem späteren klar überlegen.

Anders als in der 1814er-Fassung beginnt das letzte Finale der realistisch aufsässigeren Erstfassung mit einem verschämt gezeigten Aufstand des Volkes, das nach Rache schreiend nicht die Pariser Bastille, sondern das Gefängnis von Sevilla stürmt. Schnell wird in bewährter "Das Volk sind wir"-Manier daraus ein Mob, der für Pizarro eine härtere Strafe fordert als bloß Einzel- und Dunkelhaft auf Lebenszeit. Der überforderte Minister macht, was mittlere Beamte und Bedenkenträger gerne machen: Er delegiert den Fall nach oben zum König.

Pizarro und sein Terrorregime sind im Libretto bloß ein bedauerlicher Unfall in einem ansonsten korrekt agierenden Königreich von Gottes Gnaden, das deshalb in keinem Moment infrage gestellt wird. Nur Beethovens Musik erklärt das Vorkommnis, anders als der Text, nicht als bedauerlichen Betriebsunfall, sie zeichnet in der Lappalie das gesamte feudale System, das durch die Französische Revolution den Todesstoß versetzt bekam.

Dennoch muss sich auch für Beethoven alles in geordneten und vorgegebenen Bahnen ereignen. Der König ist unantastbar und muss alles richten, Gott wird ständig angerufen, und Leonores Befreiungstat geschieht nicht einfach aus Liebe, sondern als Gesellenstück und (so der Untertitel der Erstfassung) "Triumph der ehelichen Liebe". Diese Gatten-Liebe ist anders als in der "Carmen" von Georges Bizet kein "rebellischer Vogel", sondern etwas Wohlgesittetes, das zuletzt fünf Minuten lang in "Wer ein holdes Weib errungen" bejubelt wird.

Zwanzig Jahre später kommt Beethoven in der "Neunten Sinfonie" mit Schiller wortgleich auf diese weltfremde Liebeskonzeption zurück und schickt dort noch einen Bannfluch hinterher: "... und wer's nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund." Kein Mann, keine Frau wird sich mehr mit diesem lebensfernen Ideal identifizieren, das, wäre es Wirklichkeit, die Welt längst entvölkert hätte. Beethovens Musik ist es damit in "Leonore" wie "Fidelio" ernst. Deshalb wird die Oper, egal in welcher Fassung, weiterhin einen schweren Stand haben.

Marzellines Gefühle sind nur normal groß. Damit konnte Beethoven wenig anfangen

Doch gibt es eine große Verliererin der Umarbeitung der "Leonore" in "Fidelio", und das ist Marzelline, die Tochter des Gefängnisdirektors. Sie ist verliebt in den Fake-Mann Leonore, und ihre Liebe ist anders als jene der Leonore normal groß. In der Erstfassung darf sie diese Liebe in einem Duett mit Leonore beglaubigen, wobei in Text wie Musik ein lesbischer Unterton in dieses ansonsten unerotische und normiert heterosexuelle Stück kommt. Diese Nummer hat Beethoven wohl aus genau diesen Gründen später gestrichen. Dadurch wird nicht nur Marzellines Rolle, sondern vor allem ihre Liebe verkleinert. Dadurch wird auch ein Makel von Leonore genommen, die die Täuschung Marzellines berechnend in Kauf nimmt und dann 1814 wie jeder von Höherem beseelte Fanatiker agiert. Leonore setzt ihre monströse Liebe höher an als das ehrliche Gefühl der Marzelline, und Beethoven seinerseits kann mit solch einer alltäglichen Liebe wenig anfangen.

Marzelline, erkennbar nach dem Vorbild der Zerlina in Mozarts "Don Giovanni" geschaffen, verschwindet und versinkt zuletzt mit ihrem Riesenliebeskummer im positiv gleichgeschalteten Jubelfinale. Sie darf keinen Ton singen gegen das allgemein verordnete Glück. Für Abweichler und Gegenstimmen hat Beethoven mit seiner idealistischen Schönfärberei weder in der Ur-"Leonore" noch im "Fidelio" Platz. Da ist Mozart in der "Entführung" ehrlicher und menschlicher, wenn er im dortigen Jubelfinale den liebeskranken Osmin mit seinem wütenden Einspruch gegen das allgemeine Glück zumindest zu Wort kommen lässt.

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SZ vom 26.02.2020/khil
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