Süddeutsche Zeitung

Bedienungsanleitungen:Angst vor der "Ikea-Klausel"

Man packt Geschenke aus und stellt verzweifelt fest: Die Bedienungsanleitung ist eine Wissenschaft für sich. Warum nur?

Von Johan Schloemann

Was immer es nun gibt zu Weihnachten: Man muss es erst mal bedienen können. Selbst bei jenen digitalen Spielzeugen, die sich viele Leute schenken und die auf einen möglichst intuitiven Umgang ausgelegt sind, selbst da wird man gerne mal zum Opfer der Plug&Play-Lüge. Also des Versprechens, man könne die Geräte einfach bloß anschalten und loslegen. Stattdessen muss man dann doch noch eine komplizierte Instruktion aus dem Netz laden, oder man verliert sich ein paar gehirnzersetzende, unfestliche Stunden lang in Diskussionsforen für Betroffene, in verästelten Untermenüs und in rätselhaften Installationsprozessen. Kann jedenfalls passieren.

Geräte sind nicht gefährlicher geworden, aber Hersteller haben angst vor der "Ikea-Klausel"

Bei allerlei Dingen, die man auspackt, vom "Star Wars"-Spielzeug bis zur Küchenmaschine, gibt es aber auch immer noch den ganz traditionellen tiefen Graben zwischen schöner Oberfläche und Bedienungsanleitung. Auf der einen Seite des Grabens steht die bunte Produktbeschreibung in der Werbung und im Internet, appetitlich angepriesen und stimmungsvoll fotografiert. Auf der anderen Seite hält man dann ein unscheinbares Faltblatt, Heftchen oder einen einschüchternden grauen Reader in Händen. Die Magie der Verführung zum Konsum verfliegt so ziemlich schnell.

Der Text ist meist extrem unanschaulich, oft falsch übersetzt oder sonst wie kryptisch. Die Hoffnung aber, die begleitenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die manchmal auch ganz alleine für sich sprechen sollen, könnten eine größere Hilfe bei der Inbetriebnahme sein als der reine Text, diese Grafiker-Hoffnung trügt nicht minder. Man kommt im Gewirr der verschiedenen Schritte und Vorschriften und nummerierten Legenden durcheinander und überblickt kaum noch, was nur Selbstverständlichkeiten sind ("Zum Auspacken Plastikfolie entfernen") und was wirklich entscheidende Weichenstellungen. Der Soziologe Richard Sennett beklagt denn auch in seinem Buch "Handwerk" den "lähmend autoritären und selbstsicheren Ton" derartiger Handreichungen.

Zudem ist die Anleitung gespickt mit Hinweisen, was man mit dem schönen neuen Ding alles nicht machen soll. Alles Mögliche ist durchgestrichen und verboten, es gibt sehr viele Ausrufezeichen. Das ist immer schlimmer geworden, liegt aber keineswegs daran, dass die Geräte in den vergangenen Jahrzehnten gefährlicher geworden wären. Es liegt vielmehr an der Angst der Hersteller vor Haftungsansprüchen. Paragraf 434 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, auch "Ikea-Klausel" genannt, lautet: "Bei einem Kauf liegt ein Sachmangel vor, wenn die Montageanleitung fehlerhaft ist." Dann lieber eine Warnung zu viel.

Wer nun inmitten von Geschenkpapier, Sicherheitshinweisen und Kindergeschrei verzweifelt, der mag sich vielleicht ein wenig so trösten: Wenn man schon nicht die konkrete Bedienungsanleitung versteht, so kann man doch vielleicht versuchen, ihren allgemeinen Sinn und ihre Geschichte ein bisschen besser zu verstehen. Das kann man im Wesentlichen von zwei Richtungen aus angehen: entweder von der Linguistik und Literaturwissenschaft her oder von der Technikphilosophie.

Die erste Richtung kümmert sich um die sprachlichen Strategien der Vermittlung von Technik und ihrer Aneignung durch Interpretation. Solche Untersuchungen kamen besonders in den Siebzigerjahren groß in Mode, als man sich von der Schönliteratur abwandte und viel davon versprach, die "graue Literatur" zu studieren, also Textsorten wie Telefonbücher, Broschüren, Kataloge, Geschäftsberichte. Zu einer solchen "Poetologie des Wissens", von der der Germanist Joseph Vogl spricht, gehören auch die Bedienungsanleitungen moderner Produkte. Zu ihren Vorfahren zählen diverse halb bildliche, halb textliche technische Handbücher seit der Renaissance. Daher stammen zum Beispiel all die Pfeile und Zeigefinger, die bis heute in Anleitungen beliebt sind.

Die Technikphilosophie wiederum unterscheidet seit Platon zwischen Handbuchwissen und Erkenntnis, und sie fragt etwa mit Martin Heidegger oder Hans Blumenberg danach, wie der Mensch die Komplexität der technischen Welt bewältigt. Die jüngere Kulturwissenschaft wiederum, die sich tatsächlich auch schon mit Bedienungsanleitungen beschäftigt hat - weil es bald kein Alltagsthema mehr gibt, dass sie noch nicht behandelt hat -, diese Kulturwissenschaft geht das Thema mit ein bisschen von beidem an.

"Indem der Dampfdruck das Wasser durch das Rohr R in den Brüher treibt..."

Eine einschlägige Studie hat 2011 Jasmin Meerhoff vorgelegt ("Read Me! Eine Kultur- und Mediengeschichte der Bedienungsanleitung"). Zu den interessanten Beobachtungen gehört: Erklärungen der technischen Vorgänge sind immer mehr durch strikte Handlungsanweisungen ersetzt worden. So legt die Beschreibung einer AEG-Kaffeemaschine aus dem Jahr 1901 dem Benutzer noch die physikalischen Hintergründe nahe: "... indem der Dampfdruck das Wasser durch das Rohr R in den Brüher treibt, wodurch der letztere schwerer als der Kessel A wird und dann infolge der Pendelaufhängung diesen hebt ..." In einer heutigen Anleitung hingegen heißt es: "Schwenkfilter ausschwenken. Filterpapier einlegen. Kaffeepulver einfüllen."

Natürlich wird dadurch für den Konsumenten auch vieles einfacher, praktischer, bis hin zu den heutigen "smarten" Anwendungen. Aber der Preis dafür ist, dass wir der Technik im Hintergrund immer mehr ausgeliefert sind. Und wenn mal etwas schiefgeht, dann wird es richtig kompliziert, dann hängt man ewig in Foren oder Hotline-Warteschleifen. Deswegen verweist die Ethnologin Klara Löffler in einem neuen Aufsatz zum Thema darauf, dass man im heutigen, immer weiter entmaterialisierten Konsum auch mit viel Überforderung, halbwissendem Ausprobieren und Ratlosigkeit rechnen muss - bis hin zum Verstauben im Regal, weil wir an einem Firmware-Update oder ähnlichen Hürden gescheitert sind. ("Bitte (nicht) öffnen. Zweck, Zweckentfremdung und Zweckdienlichkeit in und von Bedienungsanleitungen", in: "Zweckentfremdung. ,Unsachgemäßer' Gebrauch als kulturelle Praxis", hrsg. von David Keller u. Maria Dilschnitter, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016).

Der Verfasser einer Produkterklärung bleibt anonym, "weil sie gesandt wurde und niemals mit eigenem Namen, sondern nur im Namen des Gerätes spricht", wie Jasmin Meerhoff schreibt. Der Tod des Autors, über den in diesem Jahr anlässlich des Pseudonyms Elena Ferrante wieder viel debattiert wurde, ist also in der Bedienungsanleitung längst vollzogen. Und damit ist man von der Kulturwissenschaft auch wieder ganz schnell bei Weihnachten: Die Anleitung ist ein Medium, das den Engeln vergleichbar ist. Sie kann also gar nicht voll verständlich sein, weil sie zwischen der Produktion und dem Anwender ein Mysterium übermittelt. Genau wie ein Engel, so Meerhoff, sorgt die Bedienungsanleitung "für die Kommunikation und die Übertragung zwischen zwei entfernten Welten, die nicht nur voneinander räumlich entfernt, sondern auch qualitativ voneinander verschieden sind".

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Quelle:
SZ vom 24.12.2016
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