Süddeutsche Zeitung

Bedeutung des Satzes "Je suis Charlie":Wer bin ich?

Nach den Terroranschlägen von Paris war die Welt ein paar Tage vereint unter dem Slogan "Je suis Charlie". Doch was bedeutet der eigentlich? Und warum blicken seine Kritiker mit Unbehagen auf den Erfolg des Satzes?

Von Lothar Müller

Um 11.52 Uhr, nur eine halbe Stunde nach dem Massaker in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo , verschickte Joachim Roncin, künstlerischer Direktor und Musikjournalist bei einem Pariser Gratis-Magazin, über Twitter den Dreiwortsatz "Je suis Charlie". Schon am Abend war daraus ein über die sozialen Netze hinaus international präsenter Slogan geworden, sichtbar im Stadtraum, als Schriftzug in Weiß und Grau auf schwarzem Grund, in der Typografie der attackierten Zeitschrift.

Der Dreiwortsatz enthält keine Präpositionen, wie sie uns in Parolen häufig begegnen: kein "gegen", kein "für", kein "vorwärts mit", kein "nieder mit". Er koppelt lediglich die erste Person Singular des Personalpronomens und des Hilfsverbs und damit jeden, der ihn benutzt und wie auch immer er heißt, an den Namen "Charlie". Niemand versteht diese Koppelung als Tatsachenbehauptung, jeder als sprachliche Geste der symbolischen Identifikation.

So hat es auch der Urheber des Slogans beschrieben. Ich habe mich gemeint gefühlt, sagte Joachim Roncin, persönlich ins Visier genommen. Er hat aber noch etwas hinzugefügt. Er lese mit seinem Sohn sehr gern die "Où est Charlie?"-Bücher, jene in Deutschland mit "Wo ist Walter?" betitelten Wimmelbücher, in denen es darum geht, die im Gewühl versteckte Titelfigur zu finden. Man darf vermuten, dass der Kinderbuch-Charlie dazu beigetragen hat, dass aus dem Dreiwortsatz nicht der Vierwortsatz "Je suis Charlie Hebdo" wurde.

T-Shirts und Tassen mit "Je suis Charlie"

Diese Verkürzung und leichte Lockerung der Bindung an den Namen der Zeitschrift kam der Entwicklung entgegen, die der Slogan rasch nahm. "Je suis Charlie" ruft die ermordeten Karikaturisten auf, aber zugleich die Pressefreiheit, die sie in Anspruch nahmen. Der Dreiwortsatz, ans Revers geheftet oder als Schild auf einer Demonstration getragen, meint: "Ich protestiere gegen die Gewalt als Antwort auf Karikaturen." "Ich bin mit gemeint, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird." Und wenn der Satz, wie bei der Demonstration in Paris am vergangenen Sonntag, auf den Arc de Triomphe projiziert wird oder öffentliche Gebäude schmückt, bekräftigt er indirekt auch das Gewaltmonopol des modernen Staates.

In den Erfolg von "Je suis Charlie", der nun schon die ersten kommerziellen Verwerter auf T-Shirts und Tassen auf den Plan ruft, mischt sich das Unbehagen an diesem Erfolg. Da ist zum einen der Vorwurf, er sei nur ein Gemeinplatz, bedeute "gar nichts" und verpflichte auch zu nichts. Aber dieser Vorwurf trägt nicht sehr weit. Denn die Entwicklung von "Charlie" zum Symbol für die bedrohte Öffentlichkeit und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung insgesamt gehört zu den Voraussetzungen dafür, dass der Terror selbst ernannter Gotteskrieger von Massendemonstrationen beantwortet wird, die weit über das Publikum von Charlie Hebdo hinausgehen. Und es wird zu Recht sofort zum Gegenstand der öffentlichen Debatte, wenn Akteure den Slogan "Ich bin Charlie" für sich in Anspruch nehmen, die zugleich die Verschärfung von Blasphemieparagrafen fordern.

Bedenkenswert aber ist, dass der Erfolg des Slogans "Je suis Charlie" sowohl von Erweiterungen wie von Einschränkungen begleitet ist. Es war wegen seines Doppelcharakters als Symbol des Beharrens auf der Pressefreiheit und als Geste der Trauer um die Opfer notwendig, dass er sich vermehrte, zum Modellsatz wurde für "Je suis Ahmed" und "Je suis Juif". Denn auch der Überfall auf den an ein jüdisches Publikum adressierten koscheren Supermarkt war ja kein auf die allgemeine Großstadtmenge gerichteter Anschlag. Die jüdischen Opfer mussten keine Mohammed-Karikaturen zeichnen, um ins Visier von Amedy Coulibaly zu geraten. Es reichte, dass sie Juden waren. Der Slogan "Je suis Juif" hebt hervor, dass diese Mordtat der Logik antisemitischer Selektion folgte.

Der Satz "Je suis Ahmed" erinnert an den Polizisten und gläubigen Muslim Ahmed Merabet, der von den Charlie-Hebdo Attentätern auf offener Straße exekutiert wurde. Er ist aber nicht nur in der Welt, damit diese nicht vergisst, dass zu den Opfern dieses wie vieler anderer Anschläge auch Muslime zählen. Er ergänzt den Slogan "Je suis Charlie" nicht nur, er schränkt ihn auch ein, bis hin zur Negation, so in der Formulierung: "Ich bin nicht Charlie, ich bin Ahmed der tote Polizist. Charlie hat meinen Glauben und meine Kultur lächerlich gemacht, und ich starb in Verteidigung seines Rechts, das zu tun."

Mit einer Absage an die Pressefreiheit ist dieses "Je ne suis pas Charlie" nicht notwendig gekoppelt. Aber diese Negation der konkreten Adresse Charlie Hebdo ruft den Echoraum in Erinnerung, in dem die aktuellen Ereignisse und Debatten stattfinden: die Diskussionen nach dem Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh 2004 und um die dänischen Mohammed-Karikaturen 2005.

"Soumission", Unterwerfung, heißt nicht nur der aktuelle Roman von Michel Houellebecq, "Submission" hieß auch der islamkritische Film, den Theo van Gogh 2004 nach einem Drehbuch von Ayaan Hirsi Ali drehte. In Reaktion auf ihre 2006 in Berlin gehaltene Rede "Das Recht zu beleidigen" nannte Timothy Garton Ash sie damals eine "Fundamentalistin der Aufklärung". Darauf spielt nun der Charlie-Hebdo-Chefredakteur Gérard Biard an, wenn er sagt: "Ich hoffe, man wird uns nie wieder ,laizistische Fundamentalisten' nennen, und also nie wieder das gleiche Wort - Fundamentalist - für die Mörder und die Opfer verwenden."

"Gegen Islamophobie habe ich nichts - man sollte aber jeden Glauben verachten"

Mit dieser Verwahrung gegen den Fundamentalismus-Vorwurf hat Gérard Biard zweifellos recht. Aber das Problem ist damit nicht vom Tisch. Denn der strikte Laizismus ist nicht die einzige Antwort auf den unter Berufung auf Religionen ausgeübten Terror. Die moderne säkulare Gesellschaft ist säkular unter Einschluss der Religionen. Darum kann auch der deutsche Bundespräsident sagen: "Ich bin Charlie" und die Kanzlerin bekräftigen: "Der Islam gehört zu Deutschland."

Oliver Maria Schmitt, ehemaliger Chefredakteur der deutschen Satirezeitschrift Titanic, hat im Interview mit der Berliner Zeitung auf die Frage, wie es mit den Karikaturen jetzt weitergeht, so geantwortet: "Wenn Allah tatsächlich groß ist, dann wird er Charlie Hebdo so lange regelmäßig erscheinen lassen, bis auch der letzte Koran, die letzte Bibel und die letzte Thorarolle wegen Menschenfeindlichkeit eingestampft worden sind." Und er fügte hinzu: "Gegen Islamophobie habe ich persönlich nichts - man sollte aber jeden Glauben verachten."

Man tut dieser Position nicht unrecht, wenn man sie als aggressiven Laizismus bezeichnet. Sie ist unter dem Slogan "Je suis Charlie" zwanglos möglich. Aber gnade uns Gott, wenn die Verteidigung der Pressefreiheit als Feldzug gegen jegliche Religiosität geführt wird.

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Quelle:
SZ vom 14.01.2015/jana
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