Süddeutsche Zeitung

Bayreuth-Eröffnung mit "Parsifal":Hemmungslose Bilderflut

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Exorbitantes Ausstattungswelttheater am Grünen Hügel: Bei der "Parsifal"-Inszenierung von Stefan Herheim arbeiten die Bühnentechniker mehr als alle anderen, die Sänger geraten in den Hintergrund.

Reinhard J. Brembeck

"Erlösung dem Erlöser", heißt der letzte Satz in Richard Wagners "Parsifal", sei-nem letztem und gern als schwierig und ersatzreligiös eingestuften Stück. Ein markiger Spruch, der ins Zentrum von Wagners ästhetisch-politischem Denken führt, und der schon immer für Kontroversen gesorgt hat. Stefan Herheim nimmt diesen Satz in seiner diesjährigen Bayreuther Inszenierung ganz konkret ernst. Er führt die Sucht nach Erlösung als eine typisch deutsche, im 19.Jahrhundert entstandene Sehnsucht vor.

So begibt er sich auf eine mit Anspielungen, Zitaten und Zusatzhandlungen überfüllte Zeitreise, die, von Wagners auf der Bühne nachgebauter Bayreuther Villa Wahnfried ausgehend, in einer unaufhörlichen Bilderflut die Epochen der deutschen Geschichte durcheilt - bis sie im deutschen Bundestag ihr verblüffendes Erlösungsende findet.

Worum geht es im "Parsifal"? Da ist ein angeblich von Gott persönlich eingesetzter Rotary-Club, der auf Menschheitshilfe verpflichtet ist und durch eine Führungskrise gelähmt wird. Zentrum des Clubs ist ein christlich verbrämtes Ritual um einen Kelch, den Gral, der den Mitgliedern die nötige Kraft fürs Gutsein verleiht.

Chef Amfortas aber ist bei seinem Kampf gegens Böse zu weit gegangen, er hat die heilige Lanze eingebüßt, hat sich korrumpieren lassen und läuft bei Herheim als blutig angeschlagener Jesus-Bruder herum, im weißen Gewand und mit einer Dornenkrone, die direkt aus dem Gehirn durch die Schädeldecke nach außen wächst. Allerdings sind solch aufschlussreiche Details, derer es hier Myriaden gibt, nicht immer leicht zu erkennen. Denn Ausleuchter Ulrich Niepel hat sich das Halbdunkel und Zwielicht der jüngeren Deutschen Geschichte als Vorbild genommen.

Herheim und sein umtriebig aktionistischer Theatervordenkerdramaturg Alexander Meier-Dörzenbach identifizieren nun die Gralsritterschaft mit dem gesamten deutschen Volk im späten 19. Jahrhundert. Kostümfrau Gesine Völlm muss deshalb schon zu Beginn in die Vollen greifen und Professor, Pfarrer, Studentenschaftler, Polizist, Amtsmann und höhere Tochter einkleiden, um den Wilhelminismus auferstehen zu lassen. Dabei wäre nur platter Realismus herausgekommen, wenn Völlm ihrem Personal nicht durchgehend ein Paar recht dunkler Flügel verpasst hätte. Schwarze Engel sind das, auf dem Absprung in ferne Länder, um dort zu missionieren, dort deutschen Geist zu verbreiten - eine zweifelhafte Sorte Mensch.

Herheim, dieser genuine Theatermacher, träumt Wagner und Deutschland in hemmungslosen Bilderfluten. So gerät der "Parsifal" zu einem exorbitanten Ausstattungswelttheater, bei der die rückhaltlos zu bewundernden Bayreuther Bühnentechniker offensichtlich mehr arbeiten als alle anderen. Denn Heike Scheeles Bühnenbild verändert sich ständig. Da fährt ein Giebel nach oben, hier verkürzt sich eine Säule, dort weitet sich der Raum nach hinten, Spiegel zeigen dem Publikum die eigenen Gesichter, Filmsequenzen werden eingeblendet, das Bett in der Bühnenmitte verschluckt Personal, spuckt neues aus.

Diese Metamorphosen sind sehr viel mehr als die Technikschau einer durchgeknallt selbstverliebten Bühnenfrau. Sie illustrieren die These, dass sich deutsche Geschichte begreifen ließe als Variationenfolge des in Villa Wahnfried ausgebrüteten Erlösungsdenkens. Doch Gott sei Dank ist Bayreuth kein Historikertreffen, sondern pralles Theater, das mit durchaus anfechtbaren, manchmal platten Gedanken immer wieder zu inspirieren, zu verstören, zu überrumpeln, zu betören versteht. So dass man zuletzt wie Zettel im "Sommernachtstraum" gar nicht mehr so genau weiß, wie das alles war - auch wenn Kraft und Sogkraft des Abends stärker nachwirken als seine Verirrungen und Wirrnisse. Bezeichnenderweise wird Herheim und sein Team mit kurzem heftigen Jubel auf der Bühne begrüßt.

Dieser Bilderorgie können die Sänger kaum Paroli bieten. Zumal sich Herheim kaum dafür interessiert, plastische Einzelschicksale zu formen. Gerade im zweiten und dritten Akt lässt er sein Personal streckenweise erschreckend traditionell und einfallslos agieren.

Vielleicht haben diese Vernachlässigung und die Übermacht der Bilder die Sänger so eingeschüchtert, dass kaum einer sich gegen den visuellen Overkill singend zu profilieren sucht. Denn fast immer wirken sie von der Erscheinung her prägnanter als in ihrem Gesang, der sich zudem gern ein wenig in den Bühnenbildwänden verliert.

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Am ehesten noch stemmt sich Kwangchul Youn als Erzähler Gurnemanz gegen dieses Verhängnis. Er versucht mit solider Phonation und oft gut verständlich das Portrait eines zutiefst in der Seele verstörten Fürstendieners, dem der Niedergang seines Hauses Usher mehr als an die Nieren geht. Seinem Herrn Amfortas verleiht Detlef Roth zumindest einmal großes, zupackendes Format - dann wenn dieser Heilsversager sich weigert, dem Heilsbringerclub weiterhin zu präsidieren. Meist aber sieht er dem wüsten Treiben auf der Bühne eher unbeteiligt zu und singt dann auch so.

Die merkwürdige Unterpräsenz der Sänger begünstigt ein eigenartiges Duett zwischen den Szenenbildern und dem Orchester. Das Bayreuther Festspielhaus erinnert mit dem nicht sichtbaren Orchester sowieso an ein frühneuzeitliches Kino, und dieser Eindruck verstärkt sich in dieser Aufführung, die fast wie ein mit Orchester begleiteter Stummfilm daherkommt. Das liegt auch an Daniele Gatti, der völlig autonom agiert, keine intimere Beziehungen zu den Sängern aufbaut, und konsequent durchgearbeiteten Klang gefunden hat, den er langsam schreitend vorführt - er ist einer der langsamsten, aber durchaus nicht uninteressantesten "Parsifal"-Dirigenten in Bayreuth.

Gelassen kommen die Klänge daher, die dunkel und leicht schimmern. Klarheit paart sich bei Gatti mit einer weichen Milde, die selbst heftigste Ausbrüche abfedert. Das entspricht durchaus Wagners Absichten, der im "Parsifal" die Möglichkeit einer glaubhaft heilen Welt komponiert. Das bedeutet Verzicht auf Bombast, Triumph, Behauptung, Lärm.

Das meint die Hinwendung zu einfachen Formen, die ihren Reiz aus dem Fehlen eingängiger Melodien beziehen. Formen, die asketisch die Möglichkeiten der nur wenigen Motive konsequent ausschlachten und somit Brückenpfeiler sind zur Moderne. Das macht Gatti mit autochthonem Stolz klar, ohne Kraftmeierei, ohne Hintersinnelei - und wird dafür mit etlichen Buhs belohnt.

Zu Beginn stirbt in der Apsis der Villa Wahnfried eine Gestalt, die Parsifals Mutter Herzeleide sein könnte. Aber auch die Verührer-Büßerin Kundry oder Amfortas. Oder sogar Richard Wagner, dessen Grab vor der Villa liegt und Zentralpunkt der Inszenierung wird. Meist steht darüber ein Bett, doch zuletzt verwandelt es sich in einen deutschen Bundesadler, in dessen blutender Wunde Parsifal ertrinkt, wie König Ludwig im Starnberger See.

Die SS marschiert ein

Ein kleiner Junge, Parsifal im Matrosenanzug, erlebt in dieser Todesnacht die deutsche Geschichte, für die er als Erlöser ausersehen ist. Erst ist er ein großer Raufbold im Matrosenkostüm, der die Not der Deutschen und seiner Führer nicht begreift. Da steht dann Amfortas, hoch über den Kopf erhoben einen kitschig rot leuchtenden Kelch, doch keine hehren Gralsritter sendet er aus, sondern deutsche Soldaten in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Der zweite Akt führt zu Möchtegerngralsritter Klingsor, der es mit Thomas Jesatko - Anzug oben, Strapse unten, und recht ungefährlich vokalisierend - allenfalls zum RTL-Unterhalter bringt. Kaum dass der Vorhang aufgeht, beginnt das Bühnenbild schon wieder eine seiner Mutationen, verwandelt sich in Versail-les Schlossaal, in dem Lazarettbetten mit deutschen Helden stehen, die mit Krankenschwestern und Showstarlets züchtig Sex üben. Vermutlich aber taugt die Weimarer Unterhaltungsmaschinerie zwischen den beiden Weltkriegen nur bedingt als Pendant zu Klingsors generalbösem Zauberreich. Erst recht, wenn sie so wenig Sex Appeal besitzt wie in Bayreuth.

Das gilt nun auch für Dirigent Gatti, der seinen für die beiden Außenakte ge-wählten Stil der dezenten Klangveredelung auch hier durchsetzt und auf jede jetzt durchaus angebrachte, keuchende Exaltation verzichtet. Das gilt aber auch für die Kundry der Mihoko Fujimura, die als Blauer Engel erscheint, plötzlich seltsam verinnerlicht sowie recht unbeteiligt singt und dabei das Bett mit Parsifal eher umschleicht als erotisch bestürmt.

Solch eine Frau von der Bettkante zu stoßen, muss jedem Mann leicht fallen, und so klingt der bis dahin eher zuverlässige Christopher Ventris nach dem erleuchtenden Kuss tatsächlich befreit und aufgeklärt. Was es allerdings mit Wagners seltsamen Frauenbild und noch seltsameren Verhälnis zum Sex auf sich hat, das erklären weder der Regisseur noch die Musiker.

Entsetztes Raunen im Raum, als Hakenkreuzfahnen aufgezogen werden und die SS einmarschiert. Endlich erscheint auch der kleine Bub des ersten Akts wieder, dessen Schicksal Herheim ansonsten nicht mehr interessiert. Der Kleine fährt, man denkt an Hitler, aus Richard Wagners Grab nach oben und wirft die heilige Lanze nach Parsifal. Dass der dabei angewandte Trick genauso sichtbar wird, wie derjenige beim gedoubelten Sprung Parsifals von der Apisibalustrade, gehört zu den erheiternden Pannen dieses Abends.

Dass Parsifal nun mit diesem hell leuchtenden Speer den gesamten Nazispuk zusammenkrachen lässt, gehört dagegen in die Kategorie naiven Wunschden-kens. Zumal nach diesem ultimativ altruistischen Tun gar nicht mehr einzusehen ist, warum dieser tolle Heilsmann am Ende verschwinden soll.

Aber zuvor quält sich der dritte Akt durch die Ruinen nach dem Zweiten Weltkrieg. Trümmerfrauen treten zum Karfreitagszauber auf, ansonsten aber gibt Kwangchul Youns sängerisch wie szenisch auf Sinn und Stringenz bedachte Gurnemanz seine Erklärungen ab - er könnte es in jeder traditionellen Inszenierung ganz genauso tun.

Kleine Brötchen backen

Amfortas ist mittlerweile deutscher Bundeskanzler, und jeder im Saal würde wohl gerne wissen, ob sich die anwesende derzeitige Bundeskanzlerin manchmal genauso gebeutelt fühlt wie dieser aus seinem Dornenkronenkranz blutende Anzugsträger. Schnell macht Parsifal dem parlamentarischen Debakel ein Ende. Unüberhörbar hat sich Ventris vor allem auf seinen Finalmonolog vorbereitet, aber auch hier trifft er mit seiner nie stetig fließenden Stimme nicht so ganz den Ton des sanft gewaltfreien Gurus mit Allmachtsanspruch.

Parsifals finales Verschwinden ist weder durch Stück noch Regie so recht zu erklären. Und doch macht es Sinn. Herrheim inszeniert da die Sehnsucht nach einer Welt, die solche allmächtigen und deshalb utopischen Erlösergestalten gar nicht mehr nötig hat. Wenn zuletzt am Bühnenprospekt statt der bis dahin überdimensionalen Wappen- und Flaggenadler ein kleiner Vogel hell aus sich heraus zu leuchten beginnt, dann scheint der in Naivitäten verliebte Regisseur seinem Publikum zuzurufen: "Deutsche, seid realistischer, versucht nicht immer gleich alle Probleme der Menschheit zu lösen. Backt kleinere Brötchen, hier wie am Hindukusch." Wagner hat das kürzer, provokanter und poetischer ausgedrückt: Erlösung dem Erlöser.

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