Bayerische Staatsoper: Rusalka-Premiere:Die Heilige, die Hure und ein Verlies

Je menschheitsverachtender die Regie, desto mehr böhmische Gemütlichkeit im Orchestergraben: Die Münchner "Rusalka" wird als Inzest-Studie vom Premierenpublikum ausgebuht - und zugleich bejubelt.

Reinhard J. Brembeck

Martin Kusej glaubt nicht an Märchen. Oder besser: Dieser Regisseur glaubt nur an das bodenlos Böse und Banale in den Märchen - und in den Menschen. Also hat er Antonin Dvoraks Nymphe Rusalka aus ihrem böhmischen Tümpel gefischt, sie im Münchner Nationaltheater in ein Kellerverlies gesteckt und ihr einen Vater gegeben, der Josef F. aus Amstetten (Österreich) gleicht. Jener F. hatte in einem Keller seine Tochter 24 Jahre lang eingesperrt, sie immer wieder vergewaltigt und mit ihr sieben Kinder gezeugt. Kein Wunder, dass der für drastische Bilder bekannte Kusej vom Premierenpublikum ausgebuht wird.

Bayerische Staatsoper: Rusalka-Premiere: Regisseur Martin Kusej mag knallige Bilder, wenn er den Menschen als Barbaren demaskiert. Seine Version der Dvorak-Oper "Rusalka" spielt im Keller von Amstetten. Die Rehe, mit denen das Ballett hantiert, sind übrigens künstlich.

Regisseur Martin Kusej mag knallige Bilder, wenn er den Menschen als Barbaren demaskiert. Seine Version der Dvorak-Oper "Rusalka" spielt im Keller von Amstetten. Die Rehe, mit denen das Ballett hantiert, sind übrigens künstlich.

(Foto: Rabanus)

Nun kann der Rusalka-Stoff aber de facto nicht auf eine Bühne gebracht werden, weil sich sein zentrales Motiv, aus dem alle Handlung resultiert, sich nicht sichtbar machen und somit nicht im Theater zeigen lässt: Rusalka hat keine Seele, genauso wenig wie ihre Vorgängerinnen Melusine, Undine und die kleine Meerjungfrau. Wenn Kusej das Stück also als Inzeststudie anlegt, ist das der derbe, aber nicht abwegige Versuch, Entseelung sichtbar zu machen.

Zudem legt Kusej damit den Finger in die Wunde von "Rusalka". Denn das Libretto stellt der kühlen, absoluten Liebe der seelenlosen Nymphe Rusalka die "menschlich" wilde Leidenschaft einer Fürstin entgegen. Es geht also um Spielarten der Sexualität, die tiefer zielen als das im Text durchschimmernde Klischee von der Frau als Heiliger oder Hure.

Dvorak kümmert sich um solche Sexualpathologie kaum, die grundlegende Fragen von Treue und Tabu in der Liebe berührt. Er ist sehr viel mehr an den phantastisch feenhaften und romantischen Momenten der Geschichte interessiert. Selbst Jezibaba, die Hexe, und ihre Liebe und Tod verschwisternden Weissagen, selbst die Unkereien des Wassermanns aus dem Off bändigt Dvorak in seiner prachtvoll überschäumenden Tonsprache, statt ihnen eine übermenschliche Kontur zu verleihen. So scheint die "Rusalka"-Partitur oft gegen ihr abgründigeres Libretto komponiert zu sein.

Dirigent Tomas Hanus hält sich an Dvorak. Böhmisch gemütlich ist sein Zugriff, dunkel dicht der Klang, von Leidenschaften durchrauscht. Hanus und das Staatsorchester häkeln Motivgewebe, der große Bogen scheint bei dieser Dichte weniger wichtig zu sein. Aber je menschheitsverachtender sich Kusej gibt, umso deutlicher steuert Hanus gegen, streut zunehmend Folklore ein und gibt dem breiten und immer breiter geführten Pinsel mehr Raum als einer analytischen Aufhellung der Partitur. Er vertraut einem wohligen Bauchgefühl, das das Publikum lautstark goutiert, das es aber versäumt, in die Tiefenräume der Musik zu leuchten.

So kommen Regisseur und Dirigent zuletzt in völlig verschiedenen Stücken an. Hanus behauptet die liebgewonnene harmlose Märchentradition, Kusej aber deren Untergrund, der Menschheit als Barbarentum demaskiert.

Asozial brutale Ungemütlichkeit

Doch nicht nur der Dirigent, auch die meisten Sänger sind nicht bereit, Kusejs derb desillusionierte Lesart mitzutragen. Die große, die beeindruckende Ausnahme ist Günther Groissböck als Wassermann, als Rusalkas Vater. Er gibt den finsteren Fiesling, das Inzestmonster - ohne zu Grimassieren, ohne zu Chargieren. Mit eisiger Berechnung, ohne Sentimentalität zeichnet er singspielend einen Abgrund, dem er jede psychologische Erklärung verweigert. Ein konzentriert und schlank geführter Bass, sicher in der Höhe, nuanciert im Ausdruck.

Großartig auch der Chor, der unter seinem neuem Direktor Sören Eckhoff plötzlich nicht mehr ein sattes Fortissimo als das erstrebenswerteste Ziel auf Erden ausgibt, sondern mit feineren, leiseren Klangspielen aufwartet.

Apropos: das Reh

Die Rusalka von Kristine Opolais ist eine blendende Erscheinung, sie spielt brillant die ins Menschenleben unbeholfen hineinstaksende Nymphe. Eine sympathisch warme Sopranstimme, geschmeidig geführt, wenn auch etwas zurückhaltend und zu schüchtern in der Höhe. Doch Kristine Opolais ist nicht Rusalka. Sie ist zu diesseitig, zu leidenschaftlich, um diese ganz aus kühler Sehnsucht gewebte Nymphe zu verkörpern. Die deshalb nicht genauso leidenschaftlich wie ihre Gegenspielerin agieren dürfte, die Fürstin der Nadia Krasteva, die Kusej als krachige Sexbombe hat herrichten lassen, um seine Lieblingsthese von der Primitivität der Männer anschaulich zu machen.

Klaus Florian Vogt singt den Prinzen mit seinem entmaterialisierten Tenor, doch der völlige Mangel an Farben und die eher unorganische Bildung der Phrasen lassen ihn kaum als jugendlichen Liebhaber erscheinen. Er findet genauso wenig zu Bühnenleben wie die Jezibaba der Janina Baechle, deren Bestimmung im Kusejschen Antikosmos nicht zu erkennen ist.

Doch Dvoraks Musik ist bei weitem nicht so harmlos, wie sie an diesem Abend klingt. Das machen die vielen Bezüge zu Richard Wagner klar, die Dvorak zwar böhmisch übermalt, aber dennoch durchscheinen lässt. Wenn der Prinz, der bei Kusej kaum besser wegkommt als der vergewaltigende Vater, zuletzt todessüchtig bei Rusalka zu Kreuze kriecht, liefert das Dvorak die Gelegenheit, jenes Liebesduett, das zuvor nicht möglich war (Rusalka ist in Menschenumgebung stumm), als Höhepunkt an den Schluss der Oper zu stellen - "Tristan und Isolde", die Sehnsucht nach einer weit über sexuelle Erfüllung hinausgehenden Erlösung ist da gemeint.

Martin Kusej aber misstraut solch einem Happy End, mag es auch noch so esoterisch sein. Seine Erlösung ereignet sich in einem kargen, kalten Spital, wo der Prinz nicht in und an der Umarmung mit Rusalka stirbt, die beide erlösen würde, sondern selbstsüchtig Selbstmord begeht. Nur den Männern ist auf Erden Erlösung beschieden, so Kusej, während ihnen die Frauen auch weiterhin in dunklen Verliesen zu Willen sein müssen, ohne Aussicht darauf, dass sich das je ändern wird.

Apropos: das Reh. Vor der Premiere war bekannt geworden, dass der Regisseur ein echtes totes Reh - im Stück ist ein weißes Reh Symbol für Rusalka - auf die Bühne bringen würde. Um Protesten auszuweichen, ließ man den Plan fallen. Jetzt häutet der wenig Umstände machende Jäger (Ulrich Reß) zum aufgekratzten Gesang des Küchenjungen (Tara Erraught) ein Kunstreh, jetzt tanzt das Ballett, Mann wie Frau in weißer Hochzeitsrobe, mit Kunstrehen.

Ob echt, ob falsch, der Alltagsästhetik des Abend tut das keinen Abbruch. Denn Märchen sind für Martin Kusej schließlich eine Mischung aus naturverbundener Gemütlichkeit und asozial brutaler Ungemütlichkeit.

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