Opernpremiere:Sex aus der Dose

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Oper ohne Publikum: Eine Neuproduktion von Giuseppe Verdis "Falstaff" im Hausfernsehen der Bayerischen Staatsoper.

Von Reinhard J. Brembeck

Um 21.47 Uhr passiert dann das beglückend Unerwartete, ganz kurz vor Ende von Giuseppe Verdis letzter Oper "Falstaff". Doch bis dahin war fast drei Stunden alles unter den derzeitigen Seuchenbedingungen ganz normal abgelaufen. Die Bayerische Staatsoper hatte wie gewohnt eine Premiere live abgefilmt und im hauseigenen TV übertragen, wo sie auch ab dem kommenden Samstag für 30 Tage als Video-on-Demand für nur 15 Euro zu sehen ist. Das Orchester spielte, Michele Mariotti dirigierte, der Chor sang und die von dem grandiosen Wolfgang Koch in der Titelrolle angeführte Zehn-Solist(inn)en-Crew sang diese Midlife-Crisis-Geschichte um eine gelangweilte und entsexte Upper-Class-Comunity. Normal war auch, dass nach deutschem Politikerwillen kein Publikum anwesend sein durfte. Weshalb dieser "Falstaff" zur ersten reinen Internetpremiere des größten deutschen Opernhauses wurde.

Was dank Wolfgang Koch und der in Sachen Erotik versierten Sängerinnen Ailyn Pérez (Brava!) und Elena Tsallagova (Bravissima!!) auch lange Zeit vergnüglich gut ging. Obwohl die Inszenierung der im Theater erfolgreichen Mateja Koležnik sich vor jeder psychologischen Tiefenbohrung fernhielt. Obwohl mangels Zuschauer das Orchester anfangs den Dirigenten künstlich bejubeln musste, die beängstigend leeren Ränge aber waren dankenswerter Weise meist nicht zu sehen. Obwohl sich in der Übertragung Orchester und Stimmen sehr viel weniger mischen als im Raum. Obwohl die von Christoph Engel verantwortete Videoregie gern unbeholfen die Füße der Bühnenaktivisten abschnitt, manche unmotivierte Schnitte lieferte und ansonsten brav und nah an den Sängern blieb. Zu den schon lang bekannten Vorteilen von abgefilmter Oper gehört es, dass man anders als im Opernhaus vor Ort kein Opernglas braucht, um das immer ausdrucksstarke, aber auf die Entfernung kaum auszumachende Mienenspiel der Sänger zu erkennen.

Dieser Falstaff ist ein alternder Jedermann, der nicht verwirklichten Träumen nachhängt

Und es ist ein großes Vergnügen, mit welcher Würde und welchem Understatement Wolfgang Koch als Sir John Falstaff eine Niederlage nach der anderen einsteckt: die Geldsorgen, das Fettwerden, die grauen Haare, die Abspenstigkeit der Freunde, das Verblassen seines Sex-Appeals, die Blasiertheit der Gesellschaft. Wolfgang Koch, dieser große Wagner-Sänger, der die gerade zu Ende gehende Intendanz von Nikolaus Bachler maßgeblich geprägt hat, forciert weder spielend noch singend. Sein Witz grimassiert nicht. Dieser Falstaff ist ein auf die 60 zugehender moderner Jedermann. Einer, der seinen vielen nicht verwirklichten Träumen nachhängt, während er wehmütig durch die kalten Straßen mit ihren geschlossenen Cafés, Kneipen und Restaurants zieht.

Raimund Orfeo Voigt hat eine hohe holzvertäfelte Schrank- und Türenwand auf die Bühne gestellt, hinter der sich wieder eine solche Wand und noch eine dritte auftut, die oft hin- und hergeschoben werden. Das wirkt wie eine Mischung aus Luxushotel, Edelbordell und Spielcasino in der Provinz. Die den schlechten Geschmack und den Sexismus der Geldigen dokumentierenden Protzkostüme von Ana Savić-Gecan passen bestens dazu. Selbst das junge Liebespaar ist schon so fad und angepasst wie die Alten. Dirigent Michele Mariotti geht gemütlich zu Werke. Weder peitscht er den hirnlosen Irrsinn der Bürger, noch befeuert er deren unerfüllbare Sehnsucht nach dem alle sozialen Grenzen sprengenden Wahnsinn der Liebe, den Verdi raffiniert, leicht und elegant komponiert hat. Im goldenen Käfiggefängnis langweilt sich die saturierte Gesellschaft zu Tode.

Musik und Theater als Konserve verblassen in der Erinnerung

Dann aber, wie gesagt, um 21.47 Uhr, nach fast drei Stunden, änderte sich alles. Plötzlich erscheint mitten in der Bühnenbildwand ein Riesenbildschirm, auf dem die Köpfe der Sänger zu sehen sind, bald auch der Dirigent und das Orchester. Gezeigt wird eine vorher aufgezeichnete Probe als Zoomkonferenz. So geht es in die gewaltige Schlussfuge, die in einem wirbelnden Tontrubel das Lachen als letztes und einziges Mittel empfiehlt gegen "la propria noia", den eigenen Verdruss, die gängige Ödnis. Zur Videokonferenz füllt sich die Bühne nach und nach mit den Sängern, dem Chor, dem Dirigenten, alle mit Seuchenschutzmaske. Alle schweigen, der Gesang kommt vom Band. Dann schwenkt die Kamera ins Orchester, niemand spielt. Zuletzt schwenkt die Kamera in den leeren Zuschauerraum. Dieses Finale ist trotz dem fabelhaften Wolfgang Koch der stärkste Moment dieser Ausnahmesituationspremiere. Musik und Theater sind nicht mehr live, sondern nur noch als Konserve, als Livestream möglich, sie verblassen als Erinnerung. So formuliert die Bayerische Staatsoper ganz ohne zu Jammern ihren Protest gegen den Kunstlockdown als Kunst. Es ist ein beunruhigendes und aufwühlendes Finale, eine offene Frage, ein Schrei ohne Ton.

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