Bayerische Staatsoper:Krachend provokant

Bayerische Staatsoper: In diesem Vielnasen-Staat ist, wer nur eine Nase hat, eindeutig nicht ganz normal.

In diesem Vielnasen-Staat ist, wer nur eine Nase hat, eindeutig nicht ganz normal.

(Foto: Wilfried Hösl)

Für seine erste Premiere in München wählt der neue Intendant Serge Dorny ausgerechnet die Oper "Die Nase". Welch Glücksgriff. Der Beginn einer Zeitenwende?

Von Reinhard J. Bremeck

Triumph und gewonnen und das alles nur mit einer Nase! Im Münchner Nationaltheater ist jener Polizeistaat Wirklichkeit, den sich nicht einmal Diktatoren wünschen, weil hier jeder Polizist - vor allem sie sind auf der wimmelbildartig mit Sängern zugestellten Bühne mit ihren Schneehaufen aus Pappmaché zu sehen - lustvoll alle und jeden drangsalieren. Den in einem Käfig gehaltenen Opfern werden reihenweise die Nasen abgeschnitten, das ist wie ein perfides Kasperltheater, und die Musik von Dmitri Schostakowitsch kreischt und quiekt dazu, sie hetzt, pfeift, klöppelt, totentanzt, schrillt. Die Welt ist aus den Fugen.

Der Irrsinn ist ausgebrochen an der Bayerischen Staatsoper, und die Schuldigen dafür sind schnell benannt. Da ist zuallererst der neue Staatsopernintendant Serge Dorny, der einst mit dem legendären Superintendanten Gerard Mortier zusammengearbeitet hat und wie dieser Opernmacherei als gesamtgesellschaftlichen Auftrag versteht. Dorny hat als Intendant beim London Philharmonic Orchestra und an der Oper Lyon gearbeitet, er ist ein Intellektueller und zugleich ein passionierter Kunstliebhaber mit einer unerschöpflichen Neugier und einem umfassenden Interesse an der gesamten Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte. Russland liebt er ganz besonders, auch wenn er kein Russisch kann. Aber er hat sich zu dieser Leidenschaft den richtigen Mann - er kennt ihn aus London - als neuen Musikchef geholt (ja, die Bayerische Staatsoper ist nach wie vor ein männlich dominiertes Haus): den 1972 in Moskau geborenen, dort wie in Deutschland ausgebildeten und stilistisch von Barock bis zur Moderne versierten Vladimir Jurowski. Der dirigiert jetzt auch die erste Premiere des neuen Leitungsteams, Dmitri Schostakowitschs erste, grell zwischen den Stilen herumhüpfende Gesellschaftssatire "Die Nase".

Vladimir Jurowski ist ein sehr großer schlanker Mann mit langen, weiß werdenden Haaren. Er wirkt wie eine Mischung aus Priester, Spiritist, Paganini, Dämon, Julien Sorel und Zauberkünstler. Das alles ist im Nationaltheater sehr gut zu sehen. Auch dass Jurowski die begeisternd aufspielenden Staatsopernmusiker sowie den grandios singenden Chor und die fabelhaften 26 (!), oft mehrere Rollen singenden Solisten (ach, diese entzückend hohen Männerstimmen!) zwar immer wieder gern in den Irrsinn dieser knapp zweistündigen Partitur treibt, aber trotz aller tobenden Leidenschaft immer die Kontrolle behält.

Schostakowitsch ist hier noch ein Avantgardist, der frech auf der Tradition herumhackt

Leises fordert er genauso ein wie Details, Tanzrhythmen wie Militaristisches, Utopisches wie Brutales. Jurowski agiert blitzschnell, er schwebt wie der Schöpfergeist über den von ihn angefachten Klangwogen, er formt ohne zu bevormunden, er inspiriert und moderiert. Das ist der ideale Chef! Dieser Dirigent bringt den schwierigen Kunstdrahtseilakt fertig, ganz in der Musik und ihren aufgepeitschten Emotionen aufzugehen, aber dennoch immer eine Distanz zur Musik zu wahren. Jurowski erzeugt so einen kontrollierten Rausch, dem bis auf ihn selbst alle an diesem denkwürdigen Abend erliegen. Er wird dann auch bei diesem Einstand wie einst die römischen Soldatenkaiser per Akklamation des Publikums als Generalmusikdirektor des Hauses bestätigt.

Bayerische Staatsoper: In der Oper werden den Leuten reihenweise die Nasen abgeschnitten, ein perfides Kasperltheater.

In der Oper werden den Leuten reihenweise die Nasen abgeschnitten, ein perfides Kasperltheater.

(Foto: Wilfried Hösl)

Die wüst jede Dramaturgie auf den Kopf stellende und so gar nicht mit Klangkulinarik und romantischen Träumereien ausgestattete "Nase" wird selten gespielt, weil zu personalintensiv, zu unkonventionell, szenisch zu schwierig. "Die Nase" als Eröffnungspremiere und damit als Aushängeschild für eine neue Intendanz zu wählen, ist ein großes Risiko, erst recht in diesem traditionell nicht gerade der Moderne, der Neugier und dem Experiment ergebenen Haus. Aber Dorny und Jurowski wollen deutlich über das hinausgehen, was ihre Vorgänger August Everding, Wolfgang Sawallisch, Peter Jonas, Zubin Mehta, Nikolaus Bachler, Kent Nagano und Kirill Petrenko sich getraut haben. Sie wollen Öffnung und Weite, ohne das Publikum zu verschrecken. Und dieses Kalkül ist aufgegangen, das Experiment und Risiko haben sich gelohnt. Bedeutet das eine Zeitenwende im Nationaltheater?

Auf der Bühne ist eine fehlende Nase ein Problem mit riesigem Peinlichkeitspotenzial

Schostakowitsch ist in "Die Nase" noch ein schriller und rasanter Avantgardist, der frech auf der (russischen) Tradition herumhackt, das erste Schlagzeugensemble überhaupt schreibt, eine Polka zerhetzt, Religiöses karikiert, Obrigkeit als Popanz entlarvt. Den hier gezeichneten Weg in die Moderne durfte Schostakowitsch danach nicht weitergehen, das Sowjetsystem zwang ihn zurück in die gängigen Formen und in die Tonalität, der er dann fahle Innenwelten trostlosester Einsamkeit abtrotze. Aber in der "Nase" geht alles krachend provokant nach außen. Dem Polizisten Kovaljov, der ukrainische Gutsbesitzersohn und russisch schreibende Nikolai Gogol hat sich das ausgedacht, kommt die Nase abhanden, sie rennt als Staatsrat durch die Straßen, und der Polizist ist blamiert und stürzt in eine Existenzkrise. So etwas liest sich grandios. Auf der Bühne aber ist eine fehlende Nase ein großes Theaterproblem mit riesigem Peinlichkeitspotenzial.

Mit Problemen kennt sich der Moskauer Meisterregisseur und Bühnenbildner Kirill Serebrennikow bestens aus. Er wurde daheim wegen angeblicher Veruntreuung von Subventionsgeldern verurteilt, der Protest gegen diesen abstrusen Prozess war riesig ("Free Kirill!"), und seither inszeniert Serebrennikov via Internet und Bildschirm von seiner Moskauer Wohnung aus. Erst hielt ihn der Hausarrest vom Reisen ab, jetzt ist es der fehlende Pass. Serebrennikow ist also Experte in Sachen staatlicher Willkür und damit der richtige Mann für "Die Nase". Er erscheint zum Schlussapplaus auf einem Bildschirm und wird so stürmisch gefeiert wie alle anderen. Serebrennikow zeigt die Welt als kleinlichen Polizeistaat, der Schlagstock sitzt mehr als locker, Willkür und Sadismus herrschen. Das Personal steckt in unförmigen Polizeikostümen, alle tragen zudem Masken, die nicht vor der Seuche schützen, sondern, hier wird Serebrennikow ernst moralisch, die Menschlichkeit ihrer Träger verbergen. Kovaljov aber, der Anpassler, Womanizer und Sadist, büßt plötzlich seine Maske ein, ebenso sein unförmiges Polizeikostüm. Er steht auf der Bühne plötzlich und als einziger da wie ein ganz normaler Mensch.

Ein ganz gewöhnlicher Mensch sein zu müssen, das ist allen anderen und auch Kovaljov das Schrecklichste schlechthin. Es bedeutet wie im richtigen Leben auch, ausgestoßen, ausgeschlossen, geächtet zu sein. Immer wieder klagt Boris Pinkhasovich das Unglück seines Kovaljov, er singt ergreifender und verzweifelter und einsamer, er versucht sich umzubringen. Vergeblich. Erst ganz am Ende, Kovaljov ist wundersamerweise wieder ganz der Alte und damit ein wertvolles Mitglied des Polizeistaats, bricht er dann doch zusammen. Serebrennikow zeigt zwei desolate Wohnhäuser, oben links erhängt sich einer der hier so zahlreichen Verzweifelten, die Musik seufzt und trauert. Kovaljov aber macht, ganz ungenierter Kinderschänder, ein kleines Mädchen mit einem roten Luftballon an. Das Mädchen steht bei Serebrennikow für eine Zukunft, in der es keine Schauprozesse gibt, keinen Polizeistaat, keine Willkür. Es ist unübersehbar nur eine Illusion. Oder?

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