Süddeutsche Zeitung

Baukunst:Im Stein zucken die Glieder

Eigentlich sollte das Straßburger Münster romanisch werden. Dann kam um 1200 ein Unbekannter und führte die Gotik ein. Eine Schau vor Ort klärt das Rätsel.

Von Joseph Hanimann

Das Südquerhaus des Straßburger Münsters steht beispielhaft für alles, was in unseren Augen frühgotische Kunst und Architektur ausmacht. Das jedoch war ursprünglich gar nicht gewollt. Der Wiederaufbau des Münsters wurde nach mehreren Bränden um 1180 noch ganz im Stil der romanischen Kaiserdome Worms, Mainz und Speyer begonnen. Dann aber, nach 1200, muss irgendjemand einen radikalen Programmwechsel eingeschmuggelt haben. Plötzlich wurde die Wand der Portalfront dünner, sodass zwei Rosenfenster hineinpassen. Der Mittelpfeiler im Innenraum, der im Nordquerhaus noch bildlos massiv das Gewölbe trägt, geriet im südlichen Querhaus zu einer mit Engeln, Aposteln und dem auferstandenen Christus bestückten Säulenskulptur; Thema nun: das Weltgericht. In Verbindung mit dem Doppelportal und den beiden Glasrosetten präsentiert sich in dem Bau nun ein neues, zusammenhängendes und sehr lebhaftes Bildprogramm. Wie konnte es dazu kommen? Eine Straßburger Ausstellung schickt ihr Publikum auf eine detektivische Spurensuche.

Plötzlich diese Leichtigkeit: der Hüftschwung der Frauen, der schnelle Faltenwurf

Die in den französischen Kirchenbauten von Sens, Saint-Denis, Chartres begonnene gotische Revolution mit der durch Strebebögen und Kreuzrippengewölbe aufgelockerten Statik hat auf gewundenen Wegen aus der Île-de-France aufs Deutsche Römische Reich übergegriffen. "Von Sens bis Straßburg" hieß 1966 eine richtungweisende Studie des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer, dem nun die Straßburger Ausstellung gewidmet ist.

Diese Entwicklung muss im Detail näher beobachtet und die berühmten Skulpturen von Engelspfeiler und Südportal in Straßburg müssen im Kontext des Bauverlaufs untersucht werden, sagt die Kunsthistorikerin Sabine Bengel, Mitglied der Straßburger Münsterbauhütte "Fondation de l'Œuvre Notre-Dame" und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung. Ihre These: Ein Meister, der die Kunst der Architektur wie der Bildhauerei beherrschte, muss um das Jahr 1220 mit Gesellen aus Chartres nach Straßburg gekommen sein und den begonnenen Bau des Südquerhauses übernommen haben, um es mit einer ganz neuen Sinngebung aufzuladen. Mithilfe von Ausblicken nach Laon, Sens, Chartres, Freiburg oder Bamberg werden die Besucher in der Ausstellung zu Zeugen einer spannungsreichen Rekonstruktion.

In seinem unteren Teil zeigt das Südquerhaus die massive romanische Fassadengliederung mit Rundbogen und Doppelportal. Dieses stattete der mutmaßlich zugereiste Künstler mit einer Bildersprache aus, die im Rheinland unbekannt war und in Chartres abgeschaut worden sein muss - suggeriert die Schau. In der Mitte des Eingangsportals thront der richtende Salomon. Flankiert wird er von den allegorischen Frauenfiguren "Synagoge" und "Ecclesia": das Alte und das Neue Testament. Die erste steht mit gebrochener Lanze da, den Kopf mit verbundenen Augen leicht abgewandt nach unten gekehrt, die andere blickt erhobenen Hauptes stolz auf den Kircheneingang. Haltung und Kleidung der beiden Frauen haben nichts mehr von der bisher vorherrschenden byzantinischen Stilisierung und von der Statik romanischer Skulpturen mit fixem Blick, die ihre Kleider mit den parallelen Muldenfalten wie ein starres Gehäuse tragen. Der nun bei antiken Statuen abgeschaute Hüftschwung der Frauen und der um den engen Gürtel feinmaschige Faltenwurf lässt deutlich Körperformen durchscheinen. Unter dem Steinkleid rühren sich die Glieder, so, wie es bei vielen Figuren der französischen gotischen Kathedralen schon zu sehen war, und im Hochrelief zu Mariä Grablegung über einem der Straßburger Südeingänge scheinen die zarten Finger der Gottesmutter unter Stofffalten durch. Ebenso originell verfährt der unbekannte Meister auch auf dem Pfeiler im Inneren des südlichen Querhauses. Das sonst eher auf Portalfronten vorhandene Motiv des Weltgerichts wird hier zur umgehbaren Säulenskulptur, mit posaunenden Engeln und einem Christus, der, statt streng zu richten, seine Wunden zeigt.

In dem gleich neben dem Straßburger Münster gelegenen Dommuseum wird der Gang vorbei an den Exponaten zur Schnitzeljagd der Vermutungen und Hypothesen. Die ausgestellten Urkundensiegel legen dank ihrer klaren Datierbarkeit nahe, dass die Feinschmiede, die Stempel für Siegel herstellten, den neuen Stil schon vor den einheimischen Bildhauern adoptiert hatten.

Wer war dieser mittelalterliche Hacker im Programm der deutschen Romanik?

Die Ausbreitung der Gotik auf das Gebiet des Deutschen Römischen Reichs scheint dann schnell gefolgt zu sein. Unter dem Renaissance-Lettner des Freiburger Münsters wurde 1932 eine sitzende Königsfigur gefunden, die dem - während der Französischen Revolution zerstörten, durch historische Darstellungen aber bekannten - Salomon des Straßburger Südportals nachgeformt sein könnte. Die Einflüsse reichten bald auch noch weiter. Das Fürstenportal des Bamberger Doms aus der Zeit um 1225 zeigt ebenfalls eine Ecclesia und eine Synagoge. Ein Glasfenster im Chor der Elisabethkirche in Marburg wiederum stellt ebenfalls mit einer gewissen Ähnlichkeit die beiden Frauen dar, nur seitenverkehrt. Zeichnungen von den Straßburger Skulpturen könnten also in Umlauf gewesen sein.

Wie genau die Wege der neuen Kunst aus dem Westen nach Osten verliefen, lässt sich auch mit bestem detektivischem Gespür kaum eindeutig bestimmen. Ob der Stil aus Sens und Chartres direkt nach Straßburg gelangte und von dort vielseitig ausstrahlte, wie Willibald Sauerländer es darlegte, oder ob die Gotik auf verschiedenen Wegen, etwa über Burgund, gleichzeitig kam, bleibt umstritten. Die "Burgundische Frage" kann auch die Ausstellung nicht lösen.

Das beeinträchtigt keineswegs das Betrachterglück angesichts dieser dramaturgisch gelungenen Schau aus eigenen Beständen und Leihgaben. Wer war der rätselhafte Meister aus Chartres, dieser mittelalterliche Hacker im Programm der deutschen Romanik? Statt sich auf waghalsige Thesen festzulegen, begnügt sich die Ausstellung mit Hinweisen darauf, was überliefert ist, und lehrt uns so ein Meisterwerk frühgotischer Kunst neu zu sehen.

Straßburg 1200-1230. Die gotische Revolution. Museum Œuvre Notre-Dame / Künste des Mittelalters, Straßburg. Bis 14. Februar. www.musees.strasbourg.eu. Katalog: 39 Euro

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Quelle:
SZ vom 21.12.2015
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