Ballett:Schwere Vorwürfe gegen Ballett-Eliteakademie

Ballett: In der Tanzausbildung braucht es ein flächendeckendes Umdenken - und eine Bedarfsermittlung: Wie viele Kinder werden ausgebildet, wie viele brechen ab, wie viele kommen am Ende unter - und wie viele bleiben auf der Strecke?

In der Tanzausbildung braucht es ein flächendeckendes Umdenken - und eine Bedarfsermittlung: Wie viele Kinder werden ausgebildet, wie viele brechen ab, wie viele kommen am Ende unter - und wie viele bleiben auf der Strecke?

(Foto: imago images/CSP_bvillar1970)

Wer an der Tanz-Akademie Zürich unterrichtet wurde, schaffte es meist auf große Bühnen. Nun steht der gute Ruf vor dem Aus. Jahrelang soll es Machtmissbrauch und Übergriffe gegeben haben.

Von Dorion Weickmann

An der renommierten Tanz-Akademie Zürich soll es jahrelang zu Machtmissbrauch und Übergriffen verschiedener Art gekommen sein. Wie die Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit unter Berufung auf Gespräche mit ehemaligen Schülern und Schülerinnen berichtet, waren Demütigungen, Erniedrigungen, Bodyshaming und körperliche Gewalt an der Tagesordnung. Die Vorfälle spielten sich demnach zwischen 2007 und 2021 ab, offenbar sind mehrere Pädagogen darin verwickelt. Bei den Geschädigten sollen die Übergriffe ein Bündel an Reaktionen ausgelöst haben, darunter Depressionen, Angstzustände, Suizidneigung und Essstörungen. Der Rektor der Zürcher Hochschule der Künste, zu der die Tanz-Akademie gehört, hat eine Administrativuntersuchung angeordnet. Sie soll bis Jahresende abgeschlossen sein. Erst dann wollen sich die zuständigen Gremien äußern.

Damit steht der bislang gute Ruf der Zürcher Einrichtung vor dem Aus. Ihren Absolventen gelang regelmäßig der Sprung aufs internationale Parkett, zu Topkompanien vom Ballett Zürich über das Stuttgarter Ballett bis zum Prager Nationalballett. Auch das Bayerische Staatsballett zählte zu den Kunden. Vorerst im Amt bleiben jedoch die beiden Leiter, Steffi Scherzer und Oliver Matz. Ausgebildet an der Staatlichen Ballettschule Berlin zu DDR-Zeiten, führten ihre Karrierewege an die Spitze des Tanzensembles der Staatsoper. Sowohl Scherzer als auch Matz zählten zu den Aushängeschildern der ostdeutschen Ballettkunst und wurden von nachwachsenden Generationen geradezu vergöttert. Ob und inwiefern sich die beiden Ex-Tänzer als Pädagogen vom Drill der DDR-Trainingsmethoden und der damit verbundenen hierarchischen Führungskultur zu befreien vermochten, ist eine ebenso offene wie entscheidende Frage.

Noch immer gelten angehende Tänzer häufig als psychisch und physisch formbares Material

Zumindest scheint es kein Zufall zu sein, dass auch ihre einstige Ausbildungsstätte, die Staatliche Ballettschule Berlin, 2020 unter "Me Too"-Verdacht geriet. Die Leiter wurden abberufen, die strittige Absetzung hängt bis heute in der juristischen Schleife. Anders in Wien, wo die dem Staatsballett angegliederte Kaderschmiede nach Machtmissbrauchsvorwürfen komplett neu aufgestellt wurde. Dass mit der Tanz-Akademie Zürich nun ein dritter prominenter Schauplatz hinzukommt, zeigt - ungeachtet des Ausgangs -, wie viel in Sachen Ballettausbildung zu tun bleibt. Noch immer unterrichten an vielen Einrichtungen Lehrer, die dafür nicht qualifiziert sind. Noch immer werden Gesundheitsfragen, seelische und körperliche Befindlichkeiten hintangestellt. Noch immer gelten angehende Tänzer allzu häufig als psychisch und physisch formbares Material, statt ihre Persönlichkeiten zu entwickeln. Was jenseits von Studienabbrüchen und Langzeitfolgen auch dazu führt, dass es den Junioren beim Übergang in den Beruf bisweilen an Eigenständigkeit, Phantasie und Kreativität mangelt. Der Abgleich mit der Bühnenpraxis, mit den Erfordernissen des Tanzalltags und dem, was Choreografen heute an Kooperation erwarten, kommt zu kurz.

Einen Schritt in die richtige Richtung ging 2021 die Tanzsparte an der Münchner Hochschule für Musik und Theater - eine Begleitfolge des "Me Too"-Skandals, in den der ehemalige Präsident Siegfried Mauser verwickelt war. Die Münchner haben sich ein anspruchsvolles Konzept verordnet, um selbstbewussten und gleichzeitig exzellent tanzenden Nachwuchs auszubilden. Im November veranstalten sie ein Symposium, das den Wandel auch Kollegen anderer Institutionen schmackhaft machen soll. Auf einer Pressekonferenz, die zeitlich ironischerweise mit den Nachrichten aus Zürich zusammenfiel, fand Hochschulpräsident Bernd Redmann klare Worte: "Die Tanzausbildung macht von sich reden - durch Härte, Disziplin und ein Machtgefälle zwischen Lehrenden und Lernenden, das nicht mehr zeitgemäß ist." In der Tat braucht es ein flächendeckendes Umdenken - und eine Bedarfsermittlung: Wie viele Kinder werden ausgebildet, wie viele brechen ab, wie viele kommen am Ende unter - und wie viele bleiben auf der Strecke? Wo steht überhaupt die klassische, wo die zeitgenössische Tanzausbildung? Veränderung muss mit Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz anfangen. Sonst bleibt das Ballett in der Schleife seiner Vergangenheit hängen, die mit Ludwig XIV. begann: als Ausdruck eines feudalen Herrschaftsdiskurses. Wer kann das im 21. Jahrhundert noch rechtfertigen?

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