Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:Zehn Jahre Eiszeit

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Am Bolschoi-Theater in Moskau gibt es einen Exodus der zugewanderten Tänzer. Was bedeutet der Abbruch der Beziehungen für das Ballett?

Von Dorion Weickmann

Vor ein paar Tagen bekam Jason Beechey, Rektor der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden, einen Anruf. Am Apparat war Larisa Savelieva, Direktorin eines der wichtigsten Ballettwettbewerbe weltweit. Derzeit sucht sie Obdach für zweihundert ukrainische Nachwuchstalente, die zu Kriegsflüchtlingen geworden sind. "Wie viele kannst du aufnehmen?", fragte sie Beechey, der sofort Hilfe zusagte. Gespräche dieser Art gehören neuerdings zum Alltag in vielen Ballettdirektionsbüros hierzulande. Binnen kürzester Zeit werden Unterkünfte organisiert, Trainingsmöglichkeiten, ärztliche Versorgung. István Simon, Ex-Tänzer der Dresdner Semperoper, hat über Social Media einen Hilfsappell gestartet und verteilt geflüchtete ukrainische Profis über die ganze Republik. Theater von Chemnitz bis Karlsruhe, von Dortmund bis Darmstadt öffnen ihre Türen, bieten Schutz und Unterstützung an. Bitter nötig, wie Simon weiß: "Diese Menschen haben die Kontrolle über ihr Leben verloren" und werden sie so schnell nicht zurückbekommen. Das Pariser Théâtre du Châtelet gewährt inzwischen einer ganzen Tanztruppe Unterschlupf. Das Kiev City Ballet befand sich auf Tournee, als Putin losschlug. Der Angriff zwang die Tänzer der ukrainischen Hauptstadt ins Exil, auf unabsehbare Zeit.

Unterdessen verzeichnet die russische Tanzgemeinde erhebliche Verluste: Die prominentesten Zuwanderer der letzten Jahre haben die Koffer gepackt. Italiener wie der Bolschoi-Star Jacopo Tissi, Engländer wie Mariinski-Principal Xander Parish, Nord- und Südamerikaner wie Victor Caixeta sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Schweren Herzens, wie ihre Posts auf Instagram zeigen. Doch unter Wladimir Putins Regiment und angesichts der Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs sehen sie keine Zukunft für sich und ihre Kunst. Wie sehr der Abschied auch die Zurückbleibenden schmerzt, erwies sich bei Tissis letztem Auftritt am Bolschoi: Primaballerina Svetlana Zakharova, eine überzeugte Parteigängerin Putins, brach in Tränen aus. Der Exodus offenbart sogar den Linientreuen, wie ernst die Lage ist.

Kann man für den Frieden tanzen? Momentan sieht es eher nach Demontage aus

Von den vielen russischen Tänzern, die in Westeuropa arbeiten, scheint bislang niemand den Heimweg angetreten zu haben. Nicht wenige schlagen sich die Nächte um die Ohren, um mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Das bedeutet bisweilen: Telefonate mit Russland und mit der Ukraine, weil Familienmitglieder in beiden Staaten ansässig sind. Das Leid ist ungleich verteilt, aber es existiert hier wie dort. Für Mikhail Kaniskin, Ex-Ballerino des Berliner Staatsballetts, ist die Situation schier unerträglich. Seine betagte Verwandtschaft sitzt in einem Kiewer Luftschutzbunker fest, die jüngere Generation ist auf der Flucht. Kaniskins Mutter und Schwester leben in Moskau, wo die Preise für Lebensmittel und Medikamente quasi stündlich steigen. Kreditkarten funktionieren nicht mehr, viele Internetseiten auch nicht. Die einzige Hoffnung bleibt die Kunst. Der Abbruch aller kulturellen Beziehungen zwischen Ost und West ist der Albtraum, der viele Tänzer umtreibt. Sie glauben an die friedensstiftende Kraft ihres Tuns, an die Fähigkeit, Brücken zu bauen. Derzeit sieht es allerdings eher nach flächendeckender Demontage aus.

Gleich der erste Westeuropäer, der infolge der russischen Mobilmachung das Weite suchte, hat die Zusammenhänge klar benannt. Laurent Hilaire, Danseur étoile der Pariser Oper, leitete seit 2016 das Ballett am Moskauer Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater. Unmittelbar nach Beginn der russischen Offensive trat er zurück, reiste aus und gab der französischen Nachrichtenagentur AFP ein Interview. Seine Prophezeiung: Eiszeit für die gesamte Kultur, auch das Ballett, keine Koproduktionen mehr, Rückzug aller modernen und zeitgenössischen Choreografien. Kreationen, die Hilaire noch persönlich bei Sharon Eyal und Hofesh Shechter in Auftrag gegeben hatte, werden genauso wenig stattfinden wie geplante Auslandsgastspiele. Das Ergebnis ist ein Rückfall in die Zeiten des Kalten Krieges, das Repertoire wird notgedrungen auf Werke russischer Provenienz zusammenschmelzen. Laurent Hilaire schätzt, dass es nach der Wiederbelebung des Austauschs mindestens ein Jahrzehnt dauert, bis Normalität einkehrt. Keine guten Aussichten für Balletttänzer mit ihren traditionell kurzen Karrieren: Zehn Jahre sind für sie eine halbe Ewigkeit.

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