Der Reporter ist ganz Ohr, die Kamera hält drauf, wenn Awa Joannais sagt: "Ballett betreibt einen rassistischen Kult, und zwar systematisch." Im Trainingsoutfit sitzt die Ballerina in einem der Prachtkabinette des Palais Garnier, dem Stammsitz des Ballet de l'Opéra National de Paris, des Pariser Opernballetts. "Woran machen Sie das fest?", will der Journalist der Netzplattform Mediapart wissen. Die Tänzerin zeigt auf ihre Beine: "Sehen Sie diese dunklen Strumpfhosen - was glauben Sie, wie lange ich helle tragen musste, die gar nicht zu meiner Hautfarbe passen? Das lief auf Selbstverleugnung hinaus."
Awa Joannais ist Mitte 20, Person of Color, seit 2014 Mitglied der prestigeträchtigen Pariser Kompanie. Nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd im Mai 2020 im US-Bundesstaat Minnesota setzte sie sich mit einer Handvoll Kollegen zusammen und verfasste ein Manifest, das die internationale Ballettwelt mit hochpolitischen Fragen konfrontiert: "De la question raciale à l'Opéra national de Paris" prangert Diskriminierung, Rassismus und einen sorglosen Umgang mit Klassikern an. Gemeint sind exotisch kolorierte Repertoirestücke wie "La Bayadère", aber auch Ikonen à la "Schwanensee" oder "Giselle", deren blütenweißes Erscheinungsbild bislang als Edelfetisch des Fachs gehütet wurde.
Diese exklusive Ästhetik zeitigt inzwischen heftige Konflikte, etwa in den Reihen des Berliner Staatsballetts. Dort sah sich die dunkelhäutige Tänzerin Chloé Lopes Gomes, Schwester eines Co-Autors der Pariser Streitschrift und seit 2018 in Berlin unter Vertrag, am Rand von "Schwanensee" den rassistischen Schikanen einer Ballettmeisterin ausgesetzt. Die Intendanz reagierte zeitverzögert mit einem straffen Anti-Diskriminierungs-Programm. In Paris kündigt sich derweil eine Revolution der klassischen Tanzkunst an.
Marine Le Pen macht gegen die "Pseudo-Progressisten" beim Pariser Ballett mobil
Sofort nach seiner Ankunft im Herbst gab der neue Generalintendant Alexander Neef eine externe Untersuchung der Rassismus-Vorwürfe aus dem Tanzdepartment in Auftrag, denen sich weite Teile der Opernbelegschaft angeschlossen haben. Der Historiker Pap Ndiaye und die Philosophin Constance Rivière wurden damit betraut, die Problematik für alle Abteilungen des Hauses aufzuarbeiten. Die in einer Videopräsentation vorgestellten Ergebnisse untermauern die Kritik und kommen zu dem Schluss: "Diversität ist das große Manko."
Was den Tanz betrifft, schlagen die Wissenschaftler weitreichende Veränderungen vor, angefangen bei den Aufnahmekriterien für die angegliederte Ausbildungsschule, über die Zusammensetzung des Ensembles bis hin zum Verbot aller Weiß- und Schwarzschminkerei. Alexander Neef, der den Report als "Anfang eines langen Prozesses" bezeichnete, will die Empfehlungen umsetzen und eigens dafür auch neue Zuständigkeiten schaffen, in Gestalt einer Stelle für "Diversität und Inklusion".
Warum passiert das alles erst jetzt? Schließlich sind Ethnoklischees und weiße Privilegierung auf der Bühne wie im Parkett seit Langem ein Ärgernis. Getanzte Karikaturen haben schon 1981 die kanadische Menschenrechtskommission beschäftigt. Damals protestierte Ying Hope, Ratsherr in Toronto, gegen die Chinoiserie im zweiten Akt des "Nussknackers", die er beim Kanadischen Nationalballett gesehen hatte: "Zwei Männchen mit Fu-Manchu-Schnurrbärten tappen wie Kulis daher, und der eine haut dem anderen mit einem Schirm aufs Hinterteil", empörte sich Hope. Die Antwort der Kompaniechefin lautete: "Die Szene ist harmlos." Sie sei nur eine stilisierte Version russischer Ansichten über Chinesen. Bei dieser Linie blieb es. Bis "Me Too", LGBTQ-Aktivisten und zuletzt die Bewegung "Black Lives Matter" den Kunstsektor aufmischten und auch im Ballett eine Umwertung bislang für sakrosankt gehaltener Werte einleiteten. Trotz erbitterter Gegenwehr.
Die gibt es beispielsweise in Frankreich, wo die akademische Tanzkunst zum ersten Mal seit der Ära des Sonnenkönigs wieder ein Politikum ist. Marine Le Pen, die Vorsitzende des Rassemblement National, machte im Januar gegen die antirassistischen "Pseudo-Progressisten" an der Pariser Opern- und Ballettspitze mobil, sekundiert vom Rechtspopulisten Robert Ménard: "Wir haben die Schnauze voll von den Kaprizen dieser Minderheiten! Man muss die Auslöschung unserer Kultur endlich ausbremsen", twitterte der Provinzpolitiker. Derartigen Unsinn können nur Ewiggestrige verzapfen. Längst ist das Ballett eine globale Kunst, deren Problem nicht minoritäre Teilhabeforderung, sondern spätabsolutistisches Elitengehabe ist. Wie lässt sich das ändern?
Der Fortschritt gedeiht nur dank guter Kinderstube. Ausbildungsakademien müssen sich auf Talentsuche begeben und einen Nachwuchs heranziehen, der so divers ist wie die Gesellschaft - und obendrein selbstbewusst. Nur dann kann der nächste Schritt erfolgen: wenn es gelingt, traditionelle Ensemble-Hierarchien abzubauen, das Top-Down-Regime auszuhebeln und dabei insbesondere den Mittelbau, sprich die Ballettmeister, für Verantwortung zu sensibilisieren. Sie sind es, die über Wohl und Wehe von Tänzern entscheiden, die Karrieren fördern oder platzen lassen. Weil sie tagtäglich im Ballettsaal stehen und bis hin zu Besetzungsfragen die Geschicke wie das Image einer Kompanie maßgeblich mitbestimmen.
Es braucht besseres Krisenmanagement, kluge Leitbilder und clevere Leitungsmodelle, um Tanztruppen - sowohl an den Opern wie in der freien Szene - zukunftsfit zu machen. Nicht zuletzt müssen mehr Frauen den Sprung in Führungspositionen schaffen. Oder, um es mit der Ex-Tänzerin Ruth Theresa Howard, Amerikas führender "Black Lives Matter"-Vorkämpferin an der Ballettfront, zu sagen: "Es ist an der Zeit, dass die alte Garde abgelöst wird."
Streit ums Repertoire: Kann man den "Nussknacker" noch so spielen wie früher?
Die heikelste aller Fragen betrifft die Revision des Repertoires. Auch heiß geliebte Traditionswerke bedürfen einer kritischen Begutachtung, um ihre weltanschauliche Agenda herauszupräparieren - seien es Geschlechterbilder, Gesellschaftsentwürfe, Kolonialperspektiven. Black-, White- und Yellowfacing, wie sie von "Petruschka" bis zum "Nussknacker" lange Zeit üblich waren, gehören zwar in vielen Theatern der Vergangenheit an. Aber wer wie das Berliner Staatsballett eine Rekonstruktion von "La Bayadère" in Auftrag gibt und damit eine 1877 uraufgeführte, zeittypisch schwüle Tempeltänzerinnen-Fantasie auf die Bühne bringt, der hat künftig zwei Aufgaben.
Erstens muss er in eigens konzipierten Formaten den kulturgeschichtlichen Hintergrund ausleuchten, statt sein Publikum allein mit sinnlicher Kulinarik abzuspeisen. Zweitens muss er ein zeitgenössisches Gegengewicht schaffen - in Form einer Neuproduktion, die den historischen Stoff aus heutiger Perspektive liest. Wie spannend das ist, hat der britische Choreograf Akram Khan 2017 mit einer Neuinterpretation von "Giselle" bewiesen. Khan verlegte das Melodram aus dem rheinischen Winzeridyll in eine protoindustrielle Manufaktur und damit in die Entstehungszeit des Originals von 1841.
Die Auseinandersetzung mit dem Erbe zielt nicht auf eine Säuberung des Fundus. Nicht auf Abschaffung des "Schwanensees" oder auf die Verbannung orientalistischer Orgien im Stil von "La Péri" oder "Le Corsaire". Aber jenseits optischer Attraktion müssen Inhalte und Aussagen decodiert, muss die Überlieferung Schicht um Schicht abgetragen werden. Bis die überzeitliche Substanz des Werks zutage tritt und sich entscheiden lässt: Wie wird es künftig konserviert? Das gilt umso mehr, als der klassische Tanz in absehbarer Zeit vor ganz anderen Herausforderungen stehen wird. Wie will er zum Beispiel rollentechnisch mit genderfluiden Tänzern oder Transpersonen umgehen?
Diesen Fragen muss das Ballett sich stellen, genau wie der Rest der Gesellschaft. Zumindest der Einschaltquote nach steht das Pariser Opernballett vorerst auf soliden Beinen. Rund 300 000 TV- und Netz-Zuschauer sahen die letzte Premiere an, den Vierteiler "Créer aujourd'hui". Und doch wird sich hier wie andernorts die künftige Bedeutung, Bezahlung, Bezuschussung der Kunst maßgeblich nach dem Diversitätsfaktor der Institution bemessen. Und der wiederum ist entscheidend für die wichtigste Währung der Gegenwartskultur: ihre Relevanz.