Süddeutsche Zeitung

Ballett:Nicht von dieser Welt

In München beginnt die Ballettfestwoche mit großem Jubel für den britischen Choreografie-Star Wayne McGregor.

Von Eva-Elisabeth Fischer

Die Zuschauer, wohl ein wenig benommen von der unwirklichen Schönheit dieses Ballettabends, kommen erst richtig in Fahrt, als Wayne McGregor an die Rampe tritt und sich verbeugt. Münchens Ballettchef Igor Zelensky hat den international gefeierten englischen Choreograf McGregor geholt - er ist nach Christopher Wheeldon der zweite Erfolgsgarant, der vom Royal Ballet in London nach München kommt. McGregor erhält stürmische Ovationen für sein dreiteiliges "Portrait Wayne McGregor", mit dem er sich zur Eröffnung der Ballettfestwoche erstmals mit dem Bayerischen Staatsballett im Nationaltheater vorstellt. Der Zuspruch überrascht, denn sonst begegnet das Gros der Zuschauer gemischten Ballettabenden wie diesem eher reserviert, umso mehr, wenn sie als völlig abstrakt und dazu mit hohem intellektuellem Anspruch angekündigt ist.

Die Verknüpfung zwischen dem, was den Choreografen inspiriert hat und dem, was auf der Bühne passiert, ist allein dem Betrachter überlassen. Wayne McGregor erklärt nichts, erzählt nichts. "Sunyata", die Kreation des Abends, basiert auf dem buddhistischen Ideal von Leere und erweist sich als das sprödeste Stück mit dem spektakulärsten Bühnenbild: ein rot glühendes Rund in schwarzem Geviert, aufgezogen auf der Replik von Bildnissen des mittelalterlichen persischen Mystikers Rumi.

Ebendieser hat die finnische Komponistin Kaija Saariaho zu ihrer Musik inspiriert, zu Glockenspiel, Schlagwerkklöppeln und Flötentirilieren, aufwallenden Orchestertutti und samtigen Streichenteppichen, untermalt von getragen rezitierten Rumi-Texten. Der Dirigent Koen Kessels und das Bayerische Staatsorchester geben alles, und auch sie werden bejubelt.

Vier Tänzerinnen und vier Tänzer wechseln in Gruppen, treffen in Paaren in starrer Schräglage aufeinander. Oder sie recken, dann aufgereiht in einer Chorus Line, die Gliedmaßen, überdehnen die Beine in hohen Seiten-Kicks. Sie spielen, zu viert kreiselnd, Mühle und signalisieren, sich, minimal zeitversetzt, rundend und biegend, eine kaum wahrnehmbare Disharmonie. Allen Bemühungen zum Trotz ähnelt "Sunyata" sehr einem Ballett. Und man begreift, was McGregor mit den Worten meint, üblicherweise überlasse er ihm noch nicht bekannten Kompanien erst einmal bereits existierende Werke, bevor er etwas Neues mit ihnen erarbeitet.

Hätten die Solisten des Bayerischen Staatsballetts, die diesen Abend in Besetzungen von acht bis zwölf Tänzern bestreiten, die Chance, ein zweites Mal mit McGregor zu arbeiten, das Ergebnis fiele sicher weit vielschichtiger aus. Das lassen die beiden Einstudierungen zweier älterer Stücke vermuten, die die Uraufführung einrahmen.

Insgesamt fügt sich das "Portrait Wayne McGregor" als ästhetisches Hybrid, das sich aus diversen Tanzstilen der vergangenen 80 Jahre nährt, perfekt ein ins Repertoire des Bayerischen Staatsballetts. Man darf raten, wer bei welchem Stück Pate stand. Bei "Kairos", das den Abend eröffnet, einem audiovisuellen Überwältigungsstück, fallen einem im Rückgriff auf die späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre abstrakte, gleichwohl emotional aufgeladene, im Trikot getanzte Choreografien von Maurice Béjart und Glen Tetley ein.

Die Tänzer finden sich zu Duetten, mal gemischt, aber noch lieber je zwei Männer oder Frauen

Geheimnisvoll entrückt zwischen zwei Gazewänden, die bedruckt sind mit Notenblättern von Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten", in diffuses Licht gesetzt oder abrupt ausgeblendet von McGregors fantastischer Lichtdesignerin Lucy Carter, schlagen die Beine eines Paares aus wie die Pendel vor einer konkaven Skulptur, die im Laufe des Stücks den Tänzern als Schlaginstrument oder auch als stützende Wand dient. Tänzerkörper wellen sich gleich Riesenschlangen, finden sich zu Duetten, die - wie auch in den beiden anderen Stücken - ab und zu gemischt, aber noch lieber von jeweils zwei Männern oder zwei Frauen getanzt werden.

Auch diesmal gibt die Musik die Atmosphäre vor. Max Richters Bearbeitung lässt bei Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten" aufhorchen, beginnend mit elektronisch verfremdetem Streicherflirren, das von den folgenden Klang- und Tanzstürmen flächiger Muster kündet, während sich Körper aneinanderschmiegen oder abrupt auseinanderstieben: atomisierte Partikel eines vorher im Gleichklang vereinten Ganzen. Zehn Tänzerinnen und Tänzer stechen in Reihe Arme und Füße in die Luft. Sie ähneln Marionetten in einer fernen Galaxie, die auch in den gefühligeren Momenten wirken wie künstlich gezeugte Humanoide.

"Kairos" wurde 2014 beim Ballett Zürich uraufgeführt, "Borderland", das den Abend beschließt, ein Jahr davor in San Francisco. Bei letzterem hebt sich am Ende ikonografisch ein schwarzes Quadrat ab inmitten des strahlendblauen leeren Bühnenkastens. "Borderland" nämlich ist dem Bauhauskünstler Josef Albers gewidmet, der die Form des Quadrats bevorzugte. Die Komponisten Joel Cadburry und Paul Stoney rüsten klägliches Fiepen klanglich zu bombastischen Klangskulpturen auf, während die Tänzer in kalter Brillanz durch extreme Dehnungen und synkopierte Schritte und Sprünge Nervenkitzel nach dem Vorbild Bill Forsythes aufbauen.

McGregors erlesenes Ballett-Triptychon atemberaubender, auch befremdend entrückter Bilder verortet das Ballett ein für allemal im Computerzeitalter. Dennoch umreißt der Begriff "modern" nur unzulänglich, was McGregor, der Intellektuelle, der studierte Semiotiker und selbst ein virtuoser Tänzer, da macht. Er lässt sich von Themen aus den Humanwissenschaften, aus Genetik, Robotik und Kognitionswissenschaften für seine Stücke inspirieren, reflektiert tänzerisch über künstliche Intelligenz, ohne das System Ballett als solches in Frage zu stellen oder womöglich zu revolutionieren. Er zitiert nicht, wie es die Postmodernen taten, er zerpflückt nichts, um es neu zusammenzusetzen wie die Dekonstruktivisten.

Der tänzerische Aufbruch der Achtzigerjahre liegt dem 48-Jährigen sehr fern, auch wenn er sich beispielsweise die physischen Grenzüberschreitungen, wie sie Forsythe als Fortschreibung der Neoklassik betrieb, eins zu eins zu eigen macht oder den Expressionismus eines Kurt Jooss anonymisiert. Wie McGregor alles Vorhandene benutzt, aus diversen Stilen auswählt, was inhaltlich, atmosphärisch und vor allem zu den jeweiligen Tänzern passt. Er pflegt den Eklektizismus, um Fundstücke im Ballettsaal etwas unwiderstehlich Schönem zu fügen. Dort verwandelt sich nur Gedachtes in die Poesie der Bewegung.

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Quelle:
SZ vom 16.04.2018
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