Süddeutsche Zeitung

Ballett:Großes Ballett im Live Stream

Lesezeit: 1 min

Von Dorion Weickmann

Sie sind ja doch ziemlich tiefenentspannt, die Niederländer. Und bleiben es selbst beim Theaterbesuch unter Corona-Bedingungen. Wo hierzulande Pappschild oder Stofftüchlein die Sitzsperrung markieren, lässt Den Haags Zuiderstrandtheater reihenweise Hängebretter montieren: als Ablage für Weinglas, Handy und andere Alltagsaccessoires. Diese patente Serviceleistung kann man nunmehr sogar aus der Ferne bewundern. Fünfzehn Euro bezahlen, Streaming einschalten - und schon ist man via WLAN mitten im spärlich besetzten Parkett des Hauses platziert. Dank der ortsansässigen Weltklassekompanie namens Nederlands Dans Theater (NDT), die eine radikale Maßnahme beschlossen und ihre Saisonpremiere "Endlessly Free" zweigleisig produziert hat: auf der Bühne und als Live Stream. Bis einschließlich diesem Samstag lässt sich das dreiteilige Programm auf jedem beliebigen Endgerät begutachten.

Bislang galt: Theater und Tanz muss man in Echtzeit und vor Ort erleben. Alles andere ist nur schaler Ersatz. "Endlessly Free" beweist das Gegenteil, jedenfalls für minimalbesetzte und professionell gefilmte Formate. Die Uraufführung "Silent Tides" von Mehdi Walerski erweist sich im Homescreening als hypnotischer Pas de deux, der die Auflösung in Totalen, Halbtotalen und Nahaufnahmen prima verträgt. Chloe Albaret und Scott Fowler sind das Paar, dessen Körper hier elementar miteinander kommunizieren - über Blicke, kunstvoll gerankte Arme und eine barock verschraubte Choreografie. Die Betrachterin wird machtvoll in diese Intimität verwickelt. Sie atmet, fiebert, leidet mit, rückt so dicht ans Geschehen heran wie eine unsichtbare Dritte. Die Digitalperspektive konkurriert nicht mit dem Sitzplatz, Reihe 10. Der Blickwinkel ist ein anderer, der Erfahrungsraum auch. Beide funktionieren für sämtliche Beiträge von "Endlessly Free" exzellent, weil nie mehr als vier Tänzer gleichzeitig im Einsatz sind und die Kameraführung keine Mätzchen macht, sondern sich intensiv auf Begegnungen und Beziehungen einlässt. Für die Öko-Bilanz ist streamen allemal besser als jetten. Insofern ist der NDT-Vorstoß ganz und gar zeitgemäß.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2020
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