Süddeutsche Zeitung

Ballett:Geisterstunde

"Ghost Light": Das Hamburg Ballett kehrt mit einer Uraufführung von John Neumeier auf die Bühne zurück.

Von Dorion Weickmann

Irgendwann an diesem Abend scheinen die Toten plötzlich im Raum zu stehen. Tänzer des Hamburg-Balletts, die einem Virus zum Opfer fielen. Einer Krankheit namens Aids, die bis heute nicht besiegt ist. Wer fragt noch danach? Sie traf Schwule, traf Tänzer wie Jeffrey Kirk, dem Kompaniechef John Neumeier 1989 noch ein Abschiedsduett auf den geschundenen Leib schrieb. Keine Todesumarmung, aber ein Zugehen auf die letzte Schwelle, eine Annäherung an das Unvermeidliche.

Die Tänzerin, die Kirk damals in den Armen hielt, sitzt gut dreißig Jahre später im ausgedünnten Parkett der Hamburgischen Staatsoper. Von dort beobachtet Gigi Hyatt, einst Muse des Meisters und inzwischen Leiterin seiner Ballettschule, jenes "Ghost Light", das Neumeier für neunzig Minuten entzündet, in Gestalt einer einzigen Glühbirne, um die sich seine Tänzer versammeln. Ein "Ghost Light" wird in amerikanischen Theatern traditionell nach Probenschluss auf die Bühne gestellt. Es flackert dort, bis der nächste Arbeitstag beginnt. Solange gehört das Haus den Geistern der Toten. Sie singen, tanzen, spielen sich durch die Nacht und verblassen erst, wenn der Morgen dämmert.

Nur wer im echten Leben ein Paar ist, darf den Pas de deux auch auf der Bühne tanzen

Vor einem halben Jahr, Anfang Februar, hat das Hamburg-Ballett in Venedigs Teatro La Fenice seine letzte Vorstellung gegeben. Dann gingen die Lichter aus, in allen Theatern, weltweit. Neumeiers Ehemann ist Arzt, ein Herzspezialist. Der Choreograf sah sich von daher sachkundig beraten, als er mit seinem Ensemble schon im April die Auszeit beendete, um den Trainings- und Probenbetrieb wieder aufzunehmen. Pianist statt Orchester, keine vielköpfigen Auftritte: Auf diese Weise gelang eine Kreation für die ganze Kompanie. Unter Einhaltung sämtlicher Hygiene- und Abstandsregeln. Vor der Premiere tritt Neumeier selbst an die Rampe und bedankt sich bei seinen Tänzern. Er hat ihnen "Ghost Light" gewidmet. Ihnen, ihren Vorgängern und den Figuren, die er selbst in fast fünf Jahrzehnten auf der Staatsopernbühne zum Leben erweckt hat.

Denn "Ghost Light" ist vor allem ein Puzzle, zusammengesetzt aus fiktiven Biografien und Erzählungen, die John Neumeier mit den Körpern der Tänzer geschrieben hat. Gleich zu Beginn gleitet, lautlos fast, Anna Laudere herein. Die Haare offen, das Seidenkleid derangiert, quert sie die Bühne. Ihr zarter Leib wird von Konvulsionen erschüttert, wie es ein Blutsturz bei fortgeschrittener Tuberkulose mit sich bringt. Der Schwindsucht erliegt "Die Kameliendame" in Neumeiers Ballett, das Alexandre Dumas' Romanvorlage adaptiert. Laudere skizziert den Verfall der Luxuskokotte in einer Art Zeitraffer, bevor Edvin Revazov alias Armand Duval in ihr Boudoir eindringt und ihre Leidenschaft erweckt.

Das Ambiente muss man sich vorstellen. Denn Neumeiers "Ghost Light" steht im Dunkeln, kein Möbel weit und breit. Aber Revazov und Laudere sind auch im wahren Leben ein Paar. Nur deshalb dürfen sie diesen Pas de deux tanzen, und sie tun es inniglich. Genau wie die anderen Paare, die "Ghost Light" zum Leuchten bringen, allen voran Alexandre Riabko und Silvia Azzoni. Sie beschwören "Nijinsky" und damit ein zweites ikonisches Werk aus dem Neumeier-Repertoire. Auch wenn der lose geknüpfte Bilderbogen dieses Abends eher jenseitig schwingt, ist es doch ein Zeichen der Vitalität, wie viele Menschen sich in Neumeiers Kompanie gefunden und zusammengetan haben: Wer mit wem Tisch und Bett teilt und somit keiner Distanz bedarf, offenbaren coronataugliche Choreografien quasi im Vorübergehen. Es ist einer der wenigen tröstlichen Nebeneffekte des Pandemiegeschehens.

Zu "Kameliendame" und "Nijinsky" gesellen sich "Nussknacker", "Weihnachtsoratorium", "Anna Karenina" und viele andere Werke, die Neumeier in Hamburgs Ballettsälen im Lauf der Jahre entworfen hat. Sie irrlichtern in Ausschnitten mal parallel, mal hintereinander durch "Ghost Light", zusammengehalten von Franz Schuberts Klavierkompositionen, die Michał Białk aus dem Orchestergraben fliegen lässt - wohltemperiert, melodiös und schmiegsam. Gerade so schmiegen sich die Körper der Tänzer an die Erinnerung. Statt Schrittmaterial zu kopieren, erfindet Neumeier ganze Passagen neu und intarsiert ihnen Partikel aus den Originalchoreografien. Was ein herrliches Versteckspiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers ergibt - was ist alt, was neu?

Die jüngeren Tänzer werden in Solo-, Zweier- und Dreierkonstellationen zwischen die Auftritte der Solisten geflochten. Ein paar auffällig talentierte Nachwuchskräfte schwirren durch diese Post-Lockdown-Séance, die kein rechtes Ende findet. Sie verdämmert wie die Gespenster aus dem Totenreich bei Tagesanbruch. Aber nach so langer Durststrecke ist selbst die Überziehung der Geisterstunde verzeihlich.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5024408
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.09.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.