Lauren Cuthbertson gehört zu den Superstars des Royal Ballet in London: auf Hauptrollen abonniert, Publikumsliebling und außerdem für Witz und Schlagfertigkeit berühmt. Im Frühjahr 2020 verging ihr das Lachen: Theater zu, Studios geschlossen, die 37-jährige Ballerina war so verzweifelt wie viele Kollegen und Kolleginnen weltweit. Nicht lange, dann zog Miss Cuthbertson mit ihrem Freund aufs Land. Nur Wochen später verkündete sie rund hunderttausend Followern auf Instagram die frohe Botschaft in Form eines fötalen Ultraschallbilds, das in der Schließe einer quietschgelben Gucci-Tasche klemmte. Die Niederkunft erfolgte per Kaiserschnitt im Dezember. Seitdem ist Töchterchen Peggy, Kosename "kostbare Kartoffel", der Dreh- und Angelpunkt aller mütterlichen Posts.
Warum auch nicht? Elternschaft ist im Bühnentanz keine Seltenheit mehr, reibungslose Vereinbarkeit von Beruf und Familie dagegen schon. Trotzdem verzeichnen Companies in Großbritannien und den USA infolge des Lockdowns einen kleinen Babyboom. Gerade VIPs wie Cuthbertson haben die Auszeit offenbar für Plan B genutzt und sich den eigenen Kinderwunsch erfüllt.
Zu viele Vorstellungen, zu wenig Schlaf, trotz Nanny kein Moment zum Durchatmen
Indes werden nicht alle von ihnen bei der Stange bleiben. Unlängst hat eine Reihe junger Mütter dem Royal Ballet den Rücken gekehrt. Das coronabedingt in Finanznöte geratene Opernhaus bot - eine einmalige Chance - Abfindungen an. Die Solistin und dreifache Mutter Elizabeth Harrod hat zugegriffen und dem "Guardian" von der Zerreißprobe zwischen Kindern und Job berichtet: Zu viele Vorstellungen, zu wenig Schlaf, trotz Nanny kein Moment zum Durchatmen - "ich hatte mein Limit erreicht".
Dabei ist in der Branche längst ein Sinneswandel im Gang und Schwangerschaft keine Katastrophe mehr. Das war einmal deutlich anders. Marie Taglioni, Tanzikone der romantischen Ära, musste ihre anderen Umstände 1835 als "mal au genou", sprich: Knieverletzung kaschieren. Ein Jahrhundert später gab der Gründer des New York City Ballet, George Balanchine, die Direktive aus: "Keine Babys, keine Ehemänner, keine Freunde". Und Ninette de Valois, die Doyenne des Royal Ballet, warnte ihre Angestellten: "Darling, wenn du schwanger bist - goodbye!"

Dass diese Linie nicht mehr zu halten ist, liegt nicht zuletzt an der Fruchtbarkeit in den Chefetagen. Derzeit sehen Justin Peck und Jonathan Stafford, Balanchines Nachfahren beim New York City Ballet, selbst Vaterfreuden entgegen. In Washington, Paris und Rom bestimmen Mehrfachmütter den Kurs der Kompanien. Auch in Deutschland mehrt sich die Zahl der Direktoren, die den Schreibtisch zwischendrin fürs Windelwechseln benutzen. Karl Alfred Schreiner, Leiter des Balletts am Gärtnerplatztheater, hat im vergangenen Jahr Elternzeit genommen. Während seiner Tänzerlaufbahn hat er miterlebt, wie jede Geburt einen Karriereknick mit sich brachte. Wenn überhaupt, trauten sich die meisten Frauen erst gegen Ende der Tanzlaufbahn ein Baby zu: "Dabei sind Kinder eine Quelle der Inspiration und Kreativität, man sieht die Welt urplötzlich mit ganz anderen Augen", findet Schreiner.
Ähnlich formuliert es Bridget Breiner, Ex-Ballerina und seit 2019 Leiterin des Badischen Staatsballetts in Karlsruhe. Sie bekam ihren Sohn mit 43 Jahren, tanzte ihre letzte Vorstellung, ohne es zu wissen - und ist froh darum. Das "Geschenk eines Kindes in diesem Alter" hat ihr die schwere Entscheidung, sich von der Bühne zu verabschieden, abgenommen. Dafür muss sie jetzt mit dem Chaos klarkommen, das alle berufstätigen Eltern kennen: dem mentalen Schlingerkurs zwischen "unordentlich und naiv und impulsiv und manchmal wunderschön".
Ein Nachwuchs-Peak durch Corona zeichnet sich in der deutschen Tanzlandschaft übrigens nicht ab. Was ein gutes Zeichen ist. Zum einen fiel der Kindersegen schon in den letzten Jahren recht stattlich aus, wie die angefragten Presseabteilungen wissen lassen. Zum anderen garantiert das hiesige Theatersystem seinen Beschäftigten vielfältigen Schutz, während angloamerikanische Künstlerinnen stets unter prekären Konditionen und mit Kurzzeitkontrakten antreten. So gesehen war die Zwangspause für sie eine gute, weil jobtechnisch eine gefahrlose Gelegenheit zur Verwirklichung ihres Babyprojekts. Aber welche Kümmernisse plagen Tänzerinnen, wenn der Bauch zu wachsen beginnt?
Mehr als zehn Kilo zuzulegen, widerspricht allen Ballerinen-Klischees.
An sich gilt Tanzen als "gut geeignete Sportart in der Schwangerschaft", gegen moderates Training ist "bis nahe an den Entbindungstermin nichts einzuwenden". Das meint die Gynäkologin Anne Wiegand vom tanzmedizinischen Verband Tamed e.V. Natürlich gibt immer das subjektive Empfinden der Tänzerinnen den Ausschlag, aber viele Vorgesetzte gehen ohnehin kein Risiko ein und setzen werdende Mütter sofort auf Auftrittsentzug. Schwieriger gestaltet sich wohl eher die Phase der Entscheidungsfindung. Die Vorstellung, mehr als zehn Kilo zuzulegen, den Beckenboden zu lädieren und sich irgendwann mühselig wieder hochtrainieren zu müssen widerspricht gängigen Ballerinen-Klischees. Dazu gesellen sich die Sorgen aller erwerbstätigen Mütter, die erst zu nachtschlafender Zeit Feierabend haben: "Kinderbetreuung organisierbar? Tagesmutter? Krippenöffnungszeiten vereinbar mit dem Alltag in einer Kompanie?" Anne Wiegand vermutet, dass auch Argumente wie Festanstellung oder Ensemblegröße eine maßgebliche Rolle spielen. Freiberuflerinnen sind ganz auf sich gestellt, vielköpfige Kompanien können neben einer Ersatzbesetzung auch die eine oder andere Unterstützung organisieren.

Zum Beispiel bei der Rückkehr ins Studio. Luciana Voltolini ist Solotänzerin beim Staatsballett Berlin und steht kurz vor dem Ende der Elternzeit. Mit der Geburt ihres Sohnes haben sich Welt und Werte der 37-Jährigen verändert: "Ich habe Freiheit gewonnen, bin großzügiger geworden, weniger perfektionistisch - und sehr gespannt, meinem neuen Ich im Ballettsaal zu begegnen". Für den Wiedereinstieg hat sie sich selbst fit gemacht, aber bei Bedarf wird ihr das Health Department des Staatsballetts unter die Arme greifen. Dort gibt es neben fachkundiger Beratung auch Physiotherapie, nur das chronische Schlafdefizit wird Voltolini anders kurieren müssen. Kinderbetreuung hat sie bereits organisiert, gute Nerven und Improvisationstalent braucht sie trotzdem. Denn junge Tanzfamilien schlagen sich in der Regel mit Notbehelfen durch: Von der Verwandtschaft ist niemand vor Ort, dennoch taktet der Proben- und Aufführungskalender unerbittlich den Alltag. Auch deshalb wechseln manche Rückkehrerinnen schnell die Spur. Ivy Amista beispielsweise, gefeierte erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts, wechselte nach der Elternzeit 2020 auf eine Ballettmeisterstelle - mit familienfreundlicheren Arbeitszeiten.
An manchen Häusern hilft ein eigenes Programm den tanzenden Eltern
Wun Sze Chan, bis 2008 ebenfalls beim Bayerischen Staatsballett und seitdem beim Ballett am Rhein engagiert, bringt sich dagegen gerade wieder in Auftrittsform. Dabei profitiert sie von einem Modellprojekt namens "Post Pregnancy Programme", das Ballettchef Demis Volpi angestoßen hat: ganzheitliches Coaching fürs Comeback. Wun Sze Chan ist die erste Probandin und fest überzeugt, dass Tanzberuf und Kindererziehung unter einen Hut passen. Für Kolleginnen mit Kinderwunsch hat sie nur einen einzigen Rat: "Go for it!"