Balkan-Route und Literatur:Berlin ist Heimat

Im Literarischen Colloquium am Wannsee in Berlin erzählten internationale Autoren, wie sie die Massenflucht sehen: im Blick auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge und die Durchzugsländer.

Von Tobias Lehmkuhl

Wenn man nicht über die Krise schreibe, berichtete die Schriftstellerin Amanda Michalopoulou, habe man in Griechenland kaum noch die Chance, ein Buch zu veröffentlichen. Vladimir Arsenijević aus Belgrad pflichtete bei: Fast werde man schon gedrängt, Dinge zu erfinden. Bei einem Aufenthalt in Mexiko, sei man dort geradezu enttäuscht gewesen, es mit einem Autor aus Europa zu tun zu haben, der nicht ständig um sein Leben fürchten müsse.

Von "drama-searchers" war an diesem Abend am Wannsee die Rede, als im Rahmen der von der Allianz Kulturstiftung und dem Literarischen Colloquium Berlin getragenen Veranstaltungsreihe "Das Weiße Meer" über die Flüchtlingskrise gesprochen wurde. Auch hier also waren die Schriftsteller genötigt, über andere Dinge als Literatur zu sprechen. Als Antidot zur allgemeinen Aufgeregtheit berichtete Arsenijević deshalb von seiner Reise entlang der Balkanroute, die er im letzten Herbst zusammen mit Navid Kermani unternahm, und davon, was in all dem Leid und Schrecken auch an Schönen und Gutem zu finden war: Von dem kranken und verwirrten Mann etwa, der am Rande eines Flüchtlingscamps in einem Belgrader Park im Delirium lag - kein Flüchtling, wie sich nach einer Weile herausstellte, sondern ein junger Roma, dem nun Syrer und Afghanen zu Hilfe kamen, ihn mit Wasser und Keksen versorgten.

Aleš Šteger aus Ljubljana erzählte sehr vergnügt davon, wie ein paar Tausend Flüchtlinge plötzlich im Geburtsort seiner Großmutter an der kroatischen Grenze landeten und dort sehr freundlich empfangen wurden. Der sprechende Name des Ortes: Paradies. Dann aber habe Slowenien sich ein Beispiel an Ungarn genommen und beim Zaunbau sogar vom ungarischen Know-How profitiert.

So ein Grenzzaun kommt einem doch bekannt vor

Bei vielen Ungarn wiederum, so Zsófia Bán aus Budapest, habe der neue Grenzzaun zu einem Déjà-vu geführt: Kommt einem doch irgendwie bekannt vor, so ein eiserner Vorhang. Wenn der Zaun auch dazu diene, Flüchtlinge abzuhalten, schließe man sich damit jedoch von einem Teil Europas selbst aus. Dennoch konnte Bán der derzeitigen Situation ebenfalls etwas abgewinnen: Jener Teil Europas immerhin, zu dem Ungarn nicht gehören wolle, habe sich in einem Maß geistig in Richtung Mittlerer Osten geöffnet, wie man es vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte.

So waren mit Rasha Abbas und Assaf Alassaf an diesem Abend zwei syrische Autoren zugegen, die im auf E-Books spezialisierten Mikrotext-Verlag dieser Tage ihre ersten Bücher auf Deutsch vorlegen. Alassaf, nach einem Umweg über Mauretanien, eben erst in Deutschland angekommen, schien noch gänzlich überwältigt. Für Rasha Abbas hingegen, seit 2014 im Land, ist längst klar: "Berlin is home".

Der einzige Deutsche auf dem Podium, Ingo Schulze, Berliner schon seit 1993, erklärte, war ihn an Merkels Satz "Wir schaffen das" störe: Der Satz impliziere, dass man einmal die Ärmel hochkremple, kräftig anpacke, und dann sei Feierabend. So billig aber sei eine Lösung nicht zu haben. Es gehe darum, Dinge grundlegend zu verändern, ja Deutschland und die Welt gerechter zu machen. Die Literatur habe dabei eine Schleuserfunktion: Sie mache Dinge sichtbar. Und ohne Schleuser, das dürfe man schließlich auch nicht vergessen, gebe es auch kein Selfie mit der Kanzlerin.

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