Süddeutsche Zeitung

Bachs Solostücke für Geige:Reife und Mut

Die Soli von Johann Sebastian Bach für Geige sind ein Gipfelwerk der Klassik. Jetzt haben sie die drei Meistergeiger neu eingespielt.

Von Harald Eggebrecht

"Ich spiele seine Musik einfach lebendig, dann entfaltet sich auch die in ihr steckende Brillanz", so hat Nathan Milstein seinen Umgang mit den drei Sonaten und drei Partiten für Violine solo beschrieben, die Johann Sebastian Bach zwischen 1714 und 1720 komponierte und unter dem Titel "Sei Solo" in einer in ihrer Vitalität und Expressivität hinreißenden Schönschrift von 1720 hinterlassen hat. Aus diesem Satz spricht Milsteins Überzeugung, dass "Musik keine Tendenzen" haben sollte. Also war "sein" Bachspiel geprägt von klanglicher Deutlichkeit und geigerischer Souveränität, frei von Ideologie. Dem sind viele Geiger gefolgt, ohne Milsteins einmalige Vergegenwärtigungskraft je zu erreichen oder gar vergessen zu machen.

Durch die Erfahrungen mit der historischen Aufführungspraxis seit spätestens den Sechzigerjahren hat sich aber einiges gründlich verändert: Es dürfte kaum noch Geiger von Rang geben, die sich nicht mit Verzierungstechniken, variablem Vibratoeinsatz und Fragen herumschlagen, ob ein Barockbogen, dessen Stange nicht nach innen gebogen ist, und Darmsaiten nicht besser geeignet sind für die Darstellung von Bachs Solostücken als der moderne Bogen und Stahlsaiten. Von all diesen Problemen abgesehen haben sich Geigerinnen und Geiger sowieso ein Leben lang mit diesen Stücken zu beschäftigen, das liegt auf der Hand.

Drei Meistergeigern - Fabio Biondi, Leonidas Kavakos und Frank Peter Zimmermann - kam nun die Pandemie gewissermaßen zu Hilfe, indem sie ihnen durch die zeitweise Stilllegung des Konzertlebens plötzlich jene Muße verschaffte, die sie wohl gebraucht haben, um sich ohne äußere Ablenkung Bach widmen zu können. Biondi, Jahrgang 1961, renommierter Barockgeiger, Gründer und Dirigent des Barockensembles "Europa galante", hat die Sonaten und Partiten durchaus im Konzert dargeboten. Doch die Bedeutung und Bekanntheit dieser Werke und all die musikhistorischen Erkenntnisse und Diskussionen ließen ihn zögern, bis jetzt.

Fabio Biondi verziert die Wiederholungen innerhalb der Sätze überzeugend und abwechslungsreich

Übrigens hat es mit dem Titel "Sei Solo" eine besondere Bewandtnis, weil der Plural für sechs Soli italienisch "Sei Soli" heißen müsste. Doch "Sei Solo" kann auch anders verstanden werden, als "Du bist allein". Die Idee, dass es eine Anspielung auf den plötzlichen mysteriösen Tod von Bachs erster Frau Maria Barbara sein könnte, liegt nahe. Bach war mit seinem Fürsten auf einer vierzehntägigen Tour. Als er zurückkehrte nach Köthen war Maria Barbara schon tot und begraben. Besonders der in Umfang und Bedeutung mächtigste Satz, die "Ciaccona" aus der d-Moll-Partita, wird vielfach als Bachs Reaktion, als eine Art klingendes Epitaph auf die Verstorbene verstanden. Überhaupt hat Bach Anklänge an Choräle, dann Zahlenmystik und andere Anspielungen in die Stücke eingearbeitet. Auch wenn ein Spieler wie etwa Biondi all das weiß, bleibt jenseits davon trotzdem die Aufgabe der unmittelbaren technischen und musikalischen Realisation. Für jeden Geiger wird die Aufführung auch zur Begegnung mit sich selbst, der eigenen Reife, Abgeklärtheit oder dem Mut zum Risiko. Die "Sei Solo" zu spielen, ist letztlich auch ein Akt der Selbstvergewisserung.

Biondi gelingen die drei Partiten leichtfüßig und charakteristisch. Bach hat sie sehr variabel und vielfältig gestaltet: So bietet die erste Partita in h-Moll vier Tanzsätze Allemanda, Corrente, Sarabanda und Tempo di Borea. Doch jedem akkordischen Satz hat Bach ein linear-figuratives Double beigefügt, sodass das Stück aus vier Satzpaaren besteht. Die zweite Partita in d-Moll endet in der die Dimensionen sprengenden Ciaccona, die dritte in E-Dur gibt sich französisch mit einem Auftakt-Preludio, dem eine lyrische Loure, eine kess sich verwandelnde Gavotte en Rondeau, zwei elegante Menuets, eine flotte Bourrée und die rasante Schlussgigue folgen.

Biondi verziert die Wiederholungen innerhalb der Sätze überzeugend und abwechslungsreich. Das geschieht auch in den Sonaten, die je mit einem langsamen Satz beginnen, dann sich in Fugen stürzen, danach in sanften langsamen Sätzen zur Ruhe kommen, bevor sie schnell und virtuos ausklingen. Doch die großen Satzgebilde wie die Fugen oder erst recht die Ciaccona geraten dem sizilianischen Violinisten zu kleinteilig, manchmal sogar kurzatmig. Natürlich gibt es schöne Stellen, aber die Balance, die die Sonaten als je Ganzes für ihre vier Sätze bei aller Unterschiedlichkeit brauchen, will nicht so recht gelingen.

Einen ganz anderen Eindruck hinterlässt Leonidas Kavakos, Jahrgang 1967. Sein Spiel ist rein geigerisch tadellos, sorgfältig in der Intonation, in den Verzierungen geschmackvoll, und er trumpft weder in den Fugen noch in der Ciaccona mit falschem Pathos auf. Auch ebnet er die Unterschiedlichkeit der Tanzsätze in den Partiten nicht ein und versteht sich auf einen diskreten Vibratogebrauch. Dennoch neigt seine Einspielung insgesamt eher zur Privatangelegenheit, zur Innenschau, so als ob er tatsächlich mehr für sich allein spielte. Es gibt gewissermaßen keine Projektion auf die Zuhörer hin. Damit geraten Kavakos die "Sei Solo" bei höchster instrumentaler Qualität und großer Ernsthaftigkeit am Ende seltsam beiläufig.

Dagegen Frank Peter Zimmermann, Jahrgang 1965: Er hatte im Konzert oft Sätze aus dem Konvolut der Sonaten und Partiten denkwürdig zugegeben, doch von der Aufführung des ganzen Corpus' oder einer Einspielung hielten ihn Zweifel und Vorbehalte vielfältiger Art zurück. Jetzt hat gleichsam Corona dafür gesorgt, dass er mit sich und Bach ins Reine gekommen ist. Die a-Moll-Sonate, die d-Moll- und die E-Dur-Partita hat er nun aufgenommen. Auch hier begegnet jemand sich selbst, horcht in sich hinein, indem er Bach spielt. Zimmermann beherrscht wie kein anderer die Gestaltung von Zeit, niemals entsteht der Eindruck von falscher Hast oder umgekehrt von ebenso falscher Bedeutungslangsamkeit. Vielmehr führt er den Zuhörer behutsam, doch unwiderstehlich in Bachs Violinreiche. Organisch wächst und entfaltet sich die a-Moll-Sonate in ihrer ganzen Ausgewogenheit aus dem dunklen Grave in den Aberwitz der Fuge. Aus der erlöst einen das traumhaft schwingende Andante, bevor konsequente Allegro-Motorik das Ende bringt. Die d-Moll-Partita, immer gefährdet durch zu viel Wollen und gefurchte Stirn, entwickelt Zimmermann nahezu ohne Druck und steigt so auch in die Ciaccona ein, die dann unmerklich, aber unaufhaltsam zu immer mächtigerer Größe sich weitet.

Nach der E-Dur-Partita, deren violinistischen Glanz, Gestaltenreichtum und helle Farben Zimmermann klar vergegenwärtigt, hält die Spannung an auf den zweiten Teil der "Sei Solo", der hoffentlich bald folgt. Doch jenseits aller verdienstvollen, gelungenen und interessanten Aufnahmen bleibt der Wunsch, Bachs Sonaten und Partiten wieder live im Konzert hier und jetzt zu begegnen. Dort findet nämlich die wahre Selbstvergewisserung für Künstler und Publikum statt.

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