Süddeutsche Zeitung

Bachmannpreis 2020:Literaturkritik aus dem Homeoffice

Das Wettlesen um den Bachmannpreis gibt es dieses Jahr wegen Corona nur digital. Zeit für ein paar Ausblicke in die Vergangenheit und Zukunft einer skurrilen Institution.

Von Marie Schmidt und Felix Stephan

In Klagenfurt gibt es in normalen Sommern in zwei aufeinanderfolgenden Wochen körperliche Extremereignisse: 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer Laufen, der Ironman Austria. Und einen unveröffentlichten Text vorlesen in einem Fernsehstudio, live und vor Publikum sowie einer Kritikerrunde, die über den Text urteilt, während die Autorin oder der Autor sitzen bleiben und das Urteil überwiegend schweigend hinnehmen muss: der Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis. "Angst, panische Angst", schrieb schon 1980 das Magazin Stern aus der Perspektive eines jungen Autors: "Er muss nach Klagenfurt."

Aber dieses Jahr soll der Sommer möglichst körperlos bleiben, im Corona-Jahr 2020 schwitzen in Klagenfurt höchstens die Fernsehtechniker, und kein Autor muss hin. Die Lesungen sind in den Wochen vorher aufgezeichnet worden, live aus Klagenfurt sendet nur der Moderator Christian Ankowitsch mit einigen Helfern, die Jury ist aus ihren Arbeitszimmern in Berlin, Wien, Zürich zugeschaltet. Literaturkritik im Home-Office. Und mehr als vierzehn Stunden lang live im Fernsehen, im Internet und im Radio. "Wir werden uns gut kennenlernen, ohne körperlichen Kontakt", begrüßte der Vorsitzende Hubert Winkels die neuen Mitglieder in der Jury, Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler.

Dabei war der Bachmannpreis schon abgesagt worden, Ende März, als alle Welt versuchte, sich in die neue Viruslage zu fügen. So auch der ORF Kärnten, der Veranstalter des Wettbewerbs. Sobald man aber die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter und den Sendebetrieb im Griff hatte und die Infektionsraten langsam zurückgingen, habe man angefangen, an einem digitalen Format zu arbeiten, sagt die ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard vor der ersten Sendung und wirkt noch ziemlich nervös: "Man weiß nicht wirklich, was herauskommt, wir wissen alle, wie oft man bei Skype-Konferenzen ausfällt." Mit Glasfasertechnik, drei Varianten, die Verbindung herzustellen, und der Voraufzeichnung der Lesungen hat man sich abgesichert. Gleich in der ersten Jury-Diskussion kam es dann am Donnerstag zum Schreiduell zwischen Tingler und Winkels. Die Leitungen standen. Offensichtlich macht professionelle Fernsehtechnik möglich, wenn schon nicht höflicher, was in Videokonferenzen nicht geht: durcheinanderreden.

Auch digital emotional: Gleich in der ersten Jurysitzung kam es zum Schreiduell

Weil die "Tage der deutschsprachigen Literatur", wie es offiziell heißt, gleich so aggressiv losgingen dieses Jahr, fühlte sich der österreichische Kritiker Heinz Sichrovsky (nicht in der Jury, sondern vom ORF mit der Schriftstellerin Julya Rabinovich zum Pausenkommentar abgestellt) an die Anfänge des Bachmannpreises erinnert, als sich Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens in der Jury gegenseitig die Kandidaten vermiesten. Der "Bewerb", so heißt er im Dialekt, ist eben eine alte Institution, eine fabelhaft merkwürdige. An seine Rituale und Legenden denkt man in diesem Jahr, in dem es sie nur in einer Distanzversion gibt, melancholisch. Es zeigen sich aber auch die Beharrungskräfte dieses Wettbewerbs an der Hingabe, mit der er jetzt wieder gegen alle Widerstände verteidigt wird.

Ein Dinosaurier war er eigentlich schon, als der Kärntner Schriftsteller Humbert Fink und Ernst Willner, seinerzeit Landesintendant des ORF, ihn 1978 nach dem Vorbild der Gruppe 47 entworfen haben. Deren autoritäre Gepflogenheiten waren eben im Jahrzehnt nach 1968 auch schon überholt. Sie könne sich "nicht mit dem Gedanken aussöhnen, dass hierbei Autoren wie Sportler gezwungen sind, in einer halbstündigen Lesung... um den Bonus zu ,kämpfen'", sagte die Schriftstellerin Barbara Frischmuth und schlug die Einladung zum ersten Bewerb aus. Der Protest gegen den "Literaturgerichtshof" (Michael Köhlmeier) ging mit Folge eins los, die wirksamste Version vor Corona und Social Media hieß: Abreise. Karin Struck floh im Sommer '78 "zornig und verletzt" vor dem vernichtenden Urteil der Jury.

Deren Vorsitzender Reich-Ranicki hatte sich seine erste Mannschaft selbst ausgesucht. Dreizehn würdige Juroren, darunter Frauen: eine. Die Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. "Es gibt keine guten Kritikerinnen", wurde Reich-Ranicki damals zitiert, "und mündlich brillieren können sie schon gar nicht." Heute wäre so ein Satz ein Skandal, damals noch lange nicht.

Berühmte Skandale waren: Als Rainald Goetz ("Ihr könnts mein Hirn haben") sich 1983 die Stirn aufschlitzt und das Manuskript vollblutet. Als 1984 Jörg Fauser böse verrissen wird. Wie sein Schriftstellerkollege Michael Köhlmeier später meinte, weil jeder seine Blicke und Gesten sagte: "Ich brauche euch nicht." Als Urs Allemann 1991 einen Preis für seine Prosa mit dem Titel "Babyficker" gewann.

Das erste Mal so etwas Ähnliches wie Geschlechterparität beim Bachmannpreis gab es 1997. Da hatte man sich gerade verschlankt. Nur noch vier Tage Lesungen, nur noch 22 Autoren, nur noch sieben Juroren, darunter Silvia Bovenschen, Iris Radisch und, jetzt auf der anderen Seite doch noch: Barbara Frischmuth. Heute gibt es Lesungen an drei Tagen, drei Jurorinnen und vier Juroren haben neun Autorinnen und fünf Autoren nominiert.

Klagenfurt, das sind die weichen Wasser des Wörthsees und die slowenischen Würste vom Markt

Welche weltpolitische Bedeutung der Bachmannpreis einmal hatte, lässt sich an der Geschichte einer der Kandidatinnen dieses Jahres besonders gut erzählen: der achtzigjährigen ostdeutschen Schriftstellerin Helga Schubert. 1980 war sie zum ersten Mal eingeladen, damals von dem Schriftsteller und Juror Günter Kunert. Für die DDR war das ein Problem, weil zwei Jahre zuvor der unzuverlässige Ostberliner Ulrich Plenzdorf den Bachmannpreis bekommen hatte, ein Autor also, der dem Zentralkomitee entschieden zu zottelig war. So eine Blamage wollte der Schriftstellerverband nicht ein zweites Mal riskieren und untersagte Helga Schubert die Ausreise mit der Begründung, dass es sich bei dem Vorsitzenden der Jury, Marcel Reich-Ranicki, um einen bekannten Antikommunisten handele und der Ingeborg-Bachmann-Preis als Ganzes mit der Absicht ins Leben gerufen wurde, die Deutsche Demokratische Republik bloßzustellen. So stand es in Helga Schuberts Stasi-Akte. Außerdem bestritt der Schriftstellerverband, dass so etwas wie eine "deutsche Literatur" überhaupt existiere. Es gebe eine DDR-Literatur und eine BRD-Literatur. Von einer deutschen Literatur aber könne keine Rede sein, weshalb es sich beim Ingeborg-Bachmann-Preis schon rein logisch um eine Propagandaveranstaltung zum Schaden der DDR handele. Der Schriftstellerverband forderte Helga Schubert auf, die Einladung als Zumutung öffentlich zurückzuweisen. "Entschuldigen Sie, dass ich so viel lache", sagt Helga Schubert, wenn sie die Geschichte heute erzählt, es sei ja eigentlich traurig.

Ende der Achtziger wurde Helga Schubert zum zweiten Mal eingeladen, dieses Mal als Jurorin und dieses Mal durfte sie ausreisen, allerdings mit der Auflage, dass ein Freund des DDR-Staatsdichters Hermann Kant auch mitkam, von dem Helga Schubert heute noch sagt, "der war ja gar nicht eingeladen". Der Abgesandte folgte Schubert in Klagenfurt auf Schritt und Tritt, saß unentwegt neben ihr und wenn sie in ihrer Funktion als Jurorin einen Schriftsteller aus dem imperialistischen Ausland lobte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter, was sogar dem Kameramann von 3sat auffiel, der die Intervention jedes Mal filmte. Aus Sicht des Schriftstellerverbandes der DDR bestand Schuberts Aufgabe in Klagenfurt vor allem darin, ausschließlich die mitgebrachten DDR-Schriftsteller zu loben.

Schubert selbst begriff hingegen eher als ihren Auftrag, möglichst freundlich mit den Autoren umzugehen und auf diese Weise ein Gegengewicht zu bilden zu dem stoffelig-autoritären westdeutschen Kritiker Hellmuth Karasek, der die Autoren auf die althergebrachte Weise traumatisierte. "Haben Sie das auch gehört?", fragte er das Publikum einmal in die Stille hinein, als ein Autor gerade seinen Vortrag beendet hatte, "das sollte eine Erzählung sein."

Die Pointe ist nun, dass Helga Schubert dieses Jahr zwar wieder als Autorin eingeladen ist, genau 40 Jahre nach der ersten Einladung, wegen Corona aber wieder nicht anreisen kann. Sie las also in ihrem Garten in Mecklenburg, Vogelgezwitscher im Hintergrund. Und ihrem weit ins vorige Jahrhundert zurückreisenden autobiografischen Erinnerungstext konnte die Distanz nichts anhaben: Die Jury war gerührt.

Wegen solcher Augenblicke wäre es doch ewig schade, wenn es den Bachmann-Wettbewerb einmal nicht mehr gäbe. Und die Gefahr war im Jahr 2020 nicht zum ersten Mal da, man musste schon früher um ihn fürchten. So einzigartig er ist, als Forum öffentlicher Auseinandersetzung mit literarischen Texten, hatte er doch als Medienereignis auch immer etwas erstaunlich Trockenes. Wenn man nicht gerade selbst in Klagenfurt war, wo er mit dem weichen Wasser des Wörthersees und slowenischen Würsten vom Wochenmarkt verbunden ist, war er vor allem ein Programm, das lineares Fernsehen für Tage und Stunden mit Menschen füllt, die sitzen und sprechen, sonst nichts. 2013 drohte der ORF schon mal, ganz aus dieser Veranstaltung auszusteigen. Im Hintergrund lief irgendein taktischer Schachzug seiner Direktion, die Verteilung der österreichischen Gebührenfinanzierung betreffend. Aber im sich anschließenden medialen Aufruhr fielen eben auch die bösen Worte "Internet", "Konkurrenz" und "Quoten".

Ein Autor geht lieber mit seiner Mutter Haschkekse backen, als sich das Kritikerurteil anzuhören

Dazu kommt, dass vieles von dem, was früher das Gesellschaftsereignis Klagenfurt war, das Diskutieren, Taktieren, Witzeln über die Jury unter Profis und Freunden des Wettbewerbs, heute auf Twitter stattfindet. Man sieht die Lesungen und Jurydebatten deswegen seit ein paar Jahren "second screen" mit dem Dauerkommentar des Twitterfeeds in der Hand.

So fatal es gewesen wäre, ausgerechnet in diesem Jahr keinen Bachmann-Wettbewerb zu haben, war es doch sicher auch keine übertriebene Vorsicht der Verantwortlichen, nicht einfach schnell eine improvisierte Streaming-Version aufzureißen, die den Bachmannpreis vielleicht für immer im Netz versenkt hätte. Stattdessen hat man eine Form gefunden, die wie ein Zwitter aus Video-Call und Late Night Show aussieht und nonchalant Professionalität mit Improvisation verbindet. Und mit albernen kleinen Ideen, wie den Justitiar des Wettbewerbs, der sonst nur die Lesereihenfolge auslosen und am Ende die Abstimmung für die Preisträger bezeugen darf, Tweets aus dem Internet vorlesen zu lassen. Da zeigt sich der digitale Spezial-Bewerb seiner Gegenwart und der eigenen Skurrilität absolut gewachsen.

Die zugeschaltete Kritikerjury übt sich dabei in angenehm viel Selbstreflexion, nicht nur literaturkritischer Art. Vielleicht trägt dazu bei, dass sich die Juroren selber auf dem Bildschirm als winziges Bildchen neben anderen sehen: Videokonferenzen machen bescheiden. Außer dem neuen Juror Philipp Tingler, ein Schweizer Ökonom, Studienstiftler und Romancier, der immer so schaut wie einer, der sich die ganze Zeit selbst anguckt und auch entsprechend besinnungslos dazwischenkräht. Wobei die kleine Verzögerung, mit der Zwischenrufe offenbar im Home-Office der Kritikerinnen und Kritiker ankommen, den Debatten einen leicht versetzten Rhythmus gibt. Merkwürdigerweise lässt das sogar mehr den Eindruck eines echten Gesprächs entstehen als die choreografierten Redebeiträge sonst. Was offenbar schwer durch die langen Leitungen geht, ist allerdings: Humor.

Das bekamen am ersten Lesetag besonders die Autorin Jasmin Ramadan und der Autor Leonard Hieronymi zu spüren, deren Texte eigentlich relativ lustig waren. Ob man da Ironie in den Texten spüre, grübelte die Jury. Die Autoren lesen zwar nicht live, sind aber der Diskussion über ihre Texte zugeschaltet. Sie habe sich beim Schreiben schon amüsiert, sagte Ramadan zum Schluss in die Kamera. Und Hieronymi, der ziemlich verrissen wurde, erzählte hinterher, er habe während der Jurydebatte unhörbar vor sich hingeschimpft, dann aber abgeschaltet und mit seiner Mutter Haschkekse gebacken, um das Humorlevel zu heben.

Die Äquidistanz zwischen der Kritikerjury, der eigenen Nahwelt und der Fanbase im Internet macht den digitalen Bewerb für Schriftsteller harmloser, und es fehlt ihm dadurch natürlich der entscheidende Punch. Die Gefahr, dass der Wettbewerb in dieser Form am Ende besser gewesen sein wird als je zuvor, besteht insofern nicht. Und dass der ORF, der Hauptveranstalter, gerade irgendwelche Sparpotenziale entdeckt, sei auch nicht zu befürchten, sagt die Landesdirektorin Bernhard: Der digitale Bewerb sei genauso teuer, wie der leibhaftige. Und dann wäre da ja noch die Stifterin des Bachmannpreis-Geldes, die Stadt Klagenfurt, für die der Wettbewerb gute Tourismuswerbung ist. Am Sonntag werden der Ingeborg-Bachmann-Preis und fünf Nebenpreise fernmündlich vergeben. Man wolle aber, sagen die Kärntner Honoratioren in Videoeinspielern, nächstes Jahr die Damen und Herren vom Literaturbetrieb unbedingt wieder da haben.

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Quelle:
SZ vom 20.06.2020/khil
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