Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert":Wer sich zu wehren hat

Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert": Eine der vielversprechendsten Stimmen der jüngeren israelischen Literatur: Ayelet Gundar-Goshen.

Eine der vielversprechendsten Stimmen der jüngeren israelischen Literatur: Ayelet Gundar-Goshen.

(Foto: Guillem López/imago images)

Ayelet Gundar-Goshen erzählt eine Geschichte israelischer Auswanderer in den USA, die zeigt, warum man vom Antisemitismus sprechen und vom Rassismus nicht schweigen muss.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Es gibt Bücher, die entwickeln ihren Sog von den ersten Zeilen an. Wie der vierte Roman der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen: In der ersten Szene schon stellt sich heraus, dass der jugendliche Sohn der Ich-Erzählerin, Adam, einen Mord begangen haben soll. Und von da an zittert die Leserin, der Leser mit ihr.

Aber "Wo der Wolf lauert" ist kein Krimi, man würde dem Roman nicht gerecht, wenn man ihn ins Genreregal stellte. Es geht nicht um die Suche nach dem Mörder, sondern um das Leben einer Familie, das zerfasert und zerfällt: ein Leben fern der Heimat, das sich unerwartet anders entwickelt als erhofft. Gundar-Goshen, die auch als Psychologin arbeitet, zeichnet ihre Protagonistinnen und Protagonisten als vielschichtige Figuren.

Sie erzählt von der Beziehung zwischen Lilach Schuster und ihrem Mann Michael, Israelis, die nach Kalifornien ausgewandert sind, weil Michael eine Karriere in einem der erfolgreichen Start-ups im Silicon Valley lockt. Lilach ist Ehefrau, Hausfrau und Mutter, nebenbei ehrenamtlich in einer Seniorenresidenz aktiv. Ihr Alltag ist der für Palo Alto womöglich typische von Menschen, die versuchen anzukommen. Auch, indem sie sich anpassen.

Die permanente Gefahr zeichnet die Beziehungen der Menschen

Sie wollten ja vor allem weg: Als Eltern wünschen sich Lilach und Michael, dass Adam Tausende Kilometer vom Nahostkonflikt entfernt aufwächst. Unberührt von dem Strudel, in den man unwillkürlich hineingezogen wird, wenn man, wie die Autorin, in Tel Aviv lebt. Etwa weil Raketenbeschuss plötzlich Realität werden kann. Was aber, wenn in der Ferne eine andere Bedrohung Wirklichkeit wird? In diesem Fall ein Anschlag auf eine Synagoge, mitten in den USA, unweit ihres neuen Wohnortes. Diese Bedrohung kommt sehr nahe - auch nicht religiös lebende Juden können sich dem nicht entziehen.

Gundar-Goshen beschreibt eindrücklich, was es mit Menschen macht, mit antisemitischen Angriffen konfrontiert zu sein. Es kann um ein Messerattentat in einer Synagoge gehen, aber genauso um Schmierereien an einem Schulgebäude: Prägnant zeichnet die Autorin das Gefühl nach, permanent einer Gefahr ausgesetzt zu sein, anders zu sein, nicht ganz dazuzugehören.

Das Besondere an diesem Buch ist die Perspektive, in der die Autorin vieles sehen lässt, was in Israel selbstverständlich ist: das Primat der Familie, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das während der für Männer drei Jahre dauernden Zeit bei der Armee entsteht. Dass die Arbeit in einer militärischen Einheit ein Verantwortungs- und Pflichtgefühl zurücklässt, dem man sich auch in einem anderen Land nicht entziehen kann, macht Gundar-Goshen nachvollziehbar. Und erklärt, warum sich Michael und insbesondere Lilach auf den früheren Elitesoldaten Uri einlassen, der wie sie aus Israel ausgewandert ist.

Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert": Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich 2021. 352 Seiten, 25 Euro.

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich 2021. 352 Seiten, 25 Euro.

Gundar-Goshen hat selbst eine Weile mit ihrer Familie in Kalifornien gelebt und ist von dort nach Israel zurückgekehrt. Deshalb ist anzunehmen, dass ihre eigenen Erfahrungen in dem Roman enthalten sind. Sie schildert - eine weitere Stärke dieses Buchs - mit klarem Blick die Gesellschaft der USA, ihre Brüche, ihre Zerrissenheit. Auch wenn US-Präsident Donald Trump nicht genannt wird, zeigt sie doch sehr klar auch die Auswirkungen seiner Politik auf ein Land, in dem Rassismus zur Alltagserfahrung vieler Menschen gehört. Der Junge, der bei dem Mord auf den ersten Seiten getötet wird, ist schwarz. Aber ist er auch ein Opfer?

Dieser Roman versucht zu vermitteln, dass eindeutige Erklärungen unmöglich sind, dass es Antisemitismus genauso gibt wie Islamfeindlichkeit. Es wird auch die Frage verhandelt, wie wehrhaft jeder Einzelne, jede Einzelne sein darf oder sogar sein muss.

Sie zwingt die Leser zu der Frage: Wie würde ich in dieser Situation handeln?

Gundar-Goshen treibt die Geschichte professionell voran, man merkt, dass sie nicht nur Psychologie, sondern auch Drehbuch-Schreiben studiert hat. Ihr 2015 erschienener zweiter Roman "Löwen wecken" wird gerade als TV-Serie verfilmt. Er handelt von einem Arzt in der Negevwüste, der einen eritreischen Flüchtling überfährt und Fahrerflucht begeht. Flucht, Vertreibung und Verantwortung - wo immer die Autorin auch aktuelle Themen in ihren Romanen verhandelt, zwingt sie ihre Leserinnen und Leser, die eigene Position immer wieder aufzugeben und sich die Frage zu stellen: Wie würde ich in dieser Situation handeln?

Für ihr 2013 veröffentlichtes Debüt "Eine Nacht, Markowitz" wurde Ayelet Gundar-Goshen mit dem Sapir-Preis ausgezeichnet, der nicht nur der prestigeträchtigste, sondern auch der bestdotierte Literaturpreis in Israel ist. Drei ihrer vier Bücher hat Ruth Achlama übersetzt - die wichtigste Mittlerin zwischen der hebräischen und der deutschen Sprache und zwischen den Kulturen. Mehr als siebzig Bücher hat Achlama übersetzt, darunter zahlreiche von Amos Oz, Abraham B. Jehoschua und Meir Shalev. Derzeit arbeitet sie an einer Autobiografie des Historikers Tom Segev. Es ist auch Achlamas Feinfühligkeit zu verdanken, dass der Roman "Wo der Wolf lauert" in all seinen Zwischentönen auf Deutsch so famos zu verstehen ist.

Mit Ayelet Gundar-Goshen, die 1982 geboren ist, zeigt sich eindrucksvoll, welch literarische Talente es in der jüngeren Generation in Israel gibt, und dass es jenseits der Altmeister Amos Oz und David Grossman dort noch vieles zu entdecken gilt. Es ist auch dem Schweizer Verlag Kein & Aber zu verdanken, dass Bücher von jüngeren Autorinnen und Autoren wie Noa Yedlin, Yonatan Sagiv oder Yishai Sarid ins Deutsche übersetzt werden. Romane wie "Wo der Wolf lauert" vermitteln eine jüdisch-israelische Perspektive, in diesem Fall mit einer Spannung, die bis zu den letzten Seiten des Buches anhält. Und dieses Ende ist ganz anders als vermutet.

Zur SZ-Startseite

Banine: "Kaukasische Tage"
:Blick zurück als Fremde

Jahrzehnte vor der Kritik am Orientalismus sah die Schriftstellerin Banine sich und ihre Herkunftswelt mit den Augen des Westens und der Männer. Und suchte dann doch ihre Freiheit.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: