Muslime in den USA:Warum ist dieser Roman kein Skandal?

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Der New Yorker Autor Ayad Akhtar schreibt Theaterstücke, Filmscripts und "Homeland Elegien" - das ist sein zweiter Roman nach dem Debüt "American Dervish" (2012). (Foto: picture alliance / Robert Newald)

Ayad Akhtar verweigert in "Homeland Elegien" die Entschuldigungen und Bescheidenheitsgesten, die Muslimen in der westlichen Welt üblicherweise abverlangt werden.

Von Felix Stephan

Ayad Akhtars Theaterstück "Disgraced" ("Geschändet"), wurde 2012 in Chicago erstmals aufgeführt und kurz darauf zu einem wahnwitzigen Welterfolg. Seinen Autor machte es so berühmt, wie es seit Arthur Miller kein amerikanischer Theaterautor mehr war. Vier New Yorker treffen sich in diesem Stück zum Dinner: ein muslimischer Anwalt, eine weiße, protestantische Künstlerin, ihr jüdischer Galerist und eine afroamerikanische Anwältin.

Alle vier sind liberale, progressive Amerikaner in der Welthauptstadt des Pluralismus, und beruflich läuft es auch. Als Amir Kapoor, der muslimische Anwalt, relativ früh am Abend anmerkt, die USA hätten sich den 11. September redlich verdient und er empfinde auch einen gewissen Stolz, dass "wir" so einen bildschönen Anschlag hinbekommen haben, geht es mit dem Abend allerdings relativ zügig bergab. Das Stück war eine Sensation, im Jahr 2013 wurde sein Autor mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.

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Acht Jahre später ist jetzt Ayad Akhtars Roman "Homeland Elegien" erschienen, und dass dieser Roman nicht ebenfalls erbitterte Leitartikel-Fehden nach sich gezogen hat, kann eigentlich nur daran liegen, dass er sich von Diderot das Stilmittel abgeschaut hat, blasphemische Ungeheuerlichkeiten stets mit einem Lächeln zu präsentieren. In der Sache jedenfalls ist das Buch eine fröhliche Totalzurückweisung all dessen, was in der soziologischen Kulturkritik seit Jahrzehnten als gut und richtig gilt: Identitätspolitik, Integration von Minderheiten, strukturelle Gesellschaftsanalyse.

Das Buch erzählt die Geschichte vom aufhaltsamen Aufstieg eines amerikanischen Schriftstellers muslimischen Glaubens namens Ayad Akhtar. Es erzählt von dessen Vater, der 2016 Trump gewählt hat, obwohl er Muslim ist, sich von dessen Rassismus aber nicht gemeint fühlte, weil er als Arzt gut verdient. Und von seiner Mutter, die in ihrem Dasein als amerikanische Arztfrau die spirituelle Wesentlichkeit der pakistanischen Heimat bitter vermisst. Mutter, Vater und Sohn bilden so etwas wie einen kulturkritischen Gesprächskreis, der zwanzig Jahre lang über die Frage diskutiert, wem in welchem Maße das Recht zukommt, die USA zu kritisieren.

"Im Lauf der Zeit ist mir klar geworden, dass man eigentlich wissen will, ob auch ich am 11. September vor Stolz errötet bin."

Der Vater hält dem Sohn vor, dass seine ständige Mäkelei vor allem Ausdruck seines Undanks sei, schließlich hätte er sich seine erfolglose Schriftstellerei in Pakistan ganz in die Haare schmieren können. In den Gesprächen mit der Mutter wiederum verteidigt der Sohn die USA gegen ihre antiimperialistischen Anwürfe, die aus ihrem Mund sehr leicht wie islamischer Fundamentalismus klingen, obwohl sie genau genommen nichts sagt, das Jutta Ditfurth oder Katja Kipping im Frühstücksfernsehen nicht auch jederzeit sagen würden.

Irgendwann aber ist der renitente Junge Ende dreißig und bekommt den Pulitzerpreis. Mit dem Ruhm kommen Reichtum und Sex, in den Garderoben berühmter Theater wird er von umwerfenden Frauen abgeschleppt, es beginnt eine Zeit, die er im Nachhinein als "sexuell verantwortungslos" beschreibt.

Mit dem Ruhm kommt aber eben auch das Publikum, das selbstgerecht übergriffige Fragen stellt, vor allem die, wie viel von dem Autor selbst in dem Stück enthalten sei. Lange habe er die Frage abgewehrt, berichtet Ayad Akhtars Ich-Erzähler Ayad Akhtar, aber mit der Zeit sei ihm klar geworden, "dass man eigentlich wissen will, ob auch ich am 11. September vor Stolz errötet bin, und wenn ja, ob ich glaube, dass Amerika bekommen hat, was es verdient hat, und schließlich, ob ich wie meine Figur der Meinung bin, dass weitere islamistische Anschläge in Amerika wahrscheinlich sind". Der Verweis auf die Fiktionalität brachte in dieser Angelegenheit natürlich genau nichts, denn: "Dass ich mich von solchen Gefühlen nicht distanzierte, wurde als stillschweigendes Schuldbekenntnis gewertet."

Das unbedingt Interessante an dem Roman ist nun erstens, dass der Erzähler den Unterschied zwischen Realität und Fiktion nicht noch einmal ausbuchstabiert, sondern vielmehr der Frage nachgeht, inwiefern die Sätze, die der muslimische Anwalt Amir Kapoor in dem Stück zum Besten gibt, nicht womöglich doch mit ihm selbst, seiner Biografie und seiner Sozialisierung zu tun haben. Und dass er zweitens relativ bald die Entdeckung macht, dass ihm diese antiamerikanischen Gewaltfantasien näherliegen, als es ihm womöglich lieb ist.

Akhtar lässt seine Muslime beides sein: moderat und radikal, pro- und antiamerikanisch

Der Satz, die Amerikaner hätten sich "den 11. September verdient", ist zum Beispiel tatsächlich einmal gefallen: Seine Mutter hatte ihn am Telefon ausgesprochen, nachdem die USA einen Mann ermordet hatten, für den sie seit der Studienzeit eine gewisse Schwäche hatte. Dieser Mann hieß Latif, war amerikanischer Staatsbürger und ist nach dem Studium als Arzt nach Pakistan gegangen, um dort Leuten zu helfen, die andernfalls keinerlei medizinische Versorgung bekommen hätten. In Pakistan nutzt ihn die CIA als Brückenkopf, um Operationen in Afghanistan zu koordinieren, bis sie ihn eines Tages samt seiner Praxis mittels einer Drohne in die Luft jagt, weil er nebenberuflich offenbar für al-Qaida tätig war. Unter dem Eindruck dieses Todesurteils, das ohne Prozess an einem amerikanischen Staatsbürger vollstreckt wurde, telefoniert die Mutter also mit dem Sohn und schimpft auf die heuchlerische Ruchlosigkeit der USA, die anderen Regierungen die Menschenrechte vorhalten, selbst aber bei Bedarf ihre eigenen Bürger umbringen, sofern sie Muslime sind: Bin Laden habe recht, muslimisches Blut sei billig, sie hätten verdient, was sie gekriegt haben und was sie noch kriegen werden. "Diese letzten Worte landeten schließlich in meinem Stück."

Die westlich weiße Mehrheitsgesellschaft teilt die Muslime unter ihren Staatsbürgern in der Regel ein in moderate und radikale Vertreter des Islams, um sie im nächsten Schritt voneinander zu trennen, und die einen zu integrieren und die anderen zu isolieren. Akhtars Roman entblößt nun den Generalverdacht, der dieser Logik zugrunde liegt, indem er seine Muslime je nach Stimmungslage beides sein lässt: moderat und radikal, pro- und antiamerikanisch, säkular und zutiefst gläubig. Was genau genommen auch nicht anders zu machen ist, schließlich handelt es sich um denkende und fühlende Personen, die wie jeder andere auch verschiedene Lebensphasen durchlaufen, gelegentlich spirituelle Orientierung suchen und das Land, in dem sie leben, eben manchmal zum Teufel wünschen.

Das Bekenntnis zu den in der Regel nicht näher beschriebenen "westlichen Werten", das von Muslimen vor allem nach Anschlägen regelmäßig abgefragt wird, verweigert Akhtars Erzähler vor diesem Hintergrund jedenfalls ausdrücklich. Gleichzeitig fordert er aber auch keine besondere Nachsicht ein, weil er etwa einer Minderheit angehört, deren Bewusstsein vor allem dadurch modelliert wird, dass sie strukturellem Rassismus ausgesetzt ist und von den Vertretern der weißen Hegemonie als "anders" markiert wird. Denn erstens tritt der Rassismus dem Erzähler und seiner Familie alles andere als subtil entgegen, mehr als einmal werden sie von bewaffneten Amerikanern auf der Straße als "Affen" beschimpft. Und zweitens haben sie sich ihre Andersartigkeit aus freien Stücken und mit voller Absicht selbst ausgesucht. Obwohl er in den USA geboren wurde, heißt es an einer Stelle, "hatte auch ich einen willentlichen Anteil an meiner Ausgrenzung, denn ich war, nachdem ich über vierzig Jahre in Amerika gelebt hatte, noch immer bereit, mich als 'anders' zu betrachten".

Die Entfremdung des Erzählers fußt nicht auf strukturellem Rassismus, sondern auf seiner eigenen "spirituellen Ablehnung" der amerikanischen Kultur. Dass diese Ablehnung aber nur dann zu einem Thema für die Behörden wird, wenn sie von einem Muslim formuliert wird, während Knausgård oder Houellebecq dafür eher keine Telefonüberwachung zu erwarten haben, offenbart den Rassismus, der auch progressiven Positionen inhärent ist. Auch die Identitätspolitik betrachtet Muslime häufig als Kollektivsubjekt, das der Kultur hilflos ausgeliefert und zum selbstbestimmten, reflexiven Individualismus nur bedingt fähig ist.

In den sozialen Medien sieht der Autor, wie eklatant seine Texte missverstanden werden

Wie um herauszufinden, wie viel das Publikum ihm zu vergeben bereit ist, verteidigt Akhtars Erzähler eine mit liberalen Normen unvereinbare muslimische Tradition nach der anderen. Die arrangierte Ehe zum Beispiel, deren Vorzüge auch Houellebecqs Erzähler mehr als einmal gepriesen haben: Als seine Eltern einmal Besuch bekommen von seinem Onkel Muzzammil und dessen Frau Safiya, fällt dem Erzähler auf, wie zärtlich die beiden miteinander umgehen, obwohl sie sich am Tag ihrer Verlobung zum ersten Mal begegnet sind. Später ist er der Ansicht, "dass das von keiner Kenntnis getrübte amerikanische Geschwätz über das himmelschreiende Unrecht arrangierter Ehen nicht anderes war als genau das: dummes Geschwätz". Oder die Episode, in der sein überintegrierter Vater einmal Hochzeitseinladungen verschicken will und dafür Briefmarken verwendet, auf denen christliche Motive zu sehen sind, und der Ich-Erzähler feststellt, dass ihn das wütend macht. "Wir Muslime" lebten zwar in einem christlichen Land, schreibt er, aber: "Wir verstanden und respektierten es nicht. Für uns war es etwas Behelfsmäßiges, eine illegitimer Abkömmling des jüdischen Glaubens, eine gigantische Fehlinterpretation, die sich auf eine ontologische Absurdität stützte: dass Gott einen Sohn brauchte und dass dieser Sohn - angeblich ebenfalls göttlich - von Menschenhand getötet werden konnte."

Auf die Frage, wie viel von der Figur des Amir Kapoor in Ayad Akhtar selbst steckt, ist dieser Roman also gewissermaßen die längstmögliche Antwort. Und dass er überhaupt geschrieben wurde, hat sehr wahrscheinlich mit den gigantischen Entdifferenzierungsmaschinen der sozialen Netzwerke zu tun. Immer wieder erwähnt der Erzähler, wie viel Zeit er damit verbringt, in den sozialen Netzwerken Kommentare über sich selbst zu lesen. Und was Autoren dabei genau erleben, hat das New Yorker Magazin n+1 kürzlich in dem brillanten Essay "The New Reading Environment" so zusammengefasst: Nie zuvor konnten Autoren ihren Lesern so genau beim Lesen ihrer Texte zuschauen. Und nie zuvor stand ihnen so unbarmherzig vor Augen, wie eklatant ihre Texte missverstanden werden. Weil Zitate und Informationsschnipsel in den sozialen Netzwerken je nach Agenda hunderttausendfach umgedeutet werden und der verzweifelte Autor live dabei zusehen kann, besteht die Erfahrung großer Reichweite heute vor allem in der Erfahrung großer Machtlosigkeit.

Vor diesem Hintergrund lautet die Ausgangsbehauptung von Ayad Akhtars Roman, dass das berühmte Theaterstück so häufig böswillig verdreht, missverstanden und instrumentalisiert wurde, dass dem Autor im Grunde gar nichts anderes übrig bleibt, als gänzlich unverstellt ein paar klärende Worte loszuwerden, bevor die Diskussion vollkommen aus dem Ruder läuft. Und es ist sicher nicht die schlechteste Pointe dieses Buches, dass diese erzählerische Geste natürlich zutiefst amerikanisch ist. Eines der Grundanliegen des amerikanischen Romans liegt sei jeher darin, dem von Standesdünkel durchsetzten europäischen Vorbild eine demokratische Alternative entgegenzusetzen und in verständlichen Worten die Wahrheit auszusprechen, wie Holden Caulfield es einst formuliert hat. Der Erzähler wird in diesem Sinne genau dann Teil der amerikanischen Kultur, als er sich von ihr lossagt.

Ayad Akhtar : Homeland Elegien. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Claassen, Berlin 2020. 464 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 07.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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