"Axolotl Overkill" im Kino:Das hier ist kein Mädels-Film

Axolotl Overkill

"Axolotl Overkill" macht Lust auf ein neues Kino besoffener Regisseurinnen, die man in keinem Alter "Mädels" nennen würde.

(Foto: Constantin Film Verleih GmbH)

Helene Hegemann verfilmt Helene Hegemann: In "Axolotl Overkill" dürfen sich zur Abwechslung mal die Frauen danebenbenehmen.

Von Philipp Bovermann

Ein Junge, ungefähr acht Jahre alt, hängt müde in einem Ledersessel und sagt: "Alles, was von nun an passiert, werde ich mit diesem morbiden, großbürgerlichen Heroinflug vergleichen, der gerade am Start ist." Er hat ein bisschen Probleme, die Adjektive morbide und großbürgerlich in einem Zug flüssig auszusprechen. Aber weil das voll krass ist, wenn kleine Kinder über Heroin reden, erfüllte der Werbetrailer zu Helene Hegemanns Buch "Axolotl Roadkill" im Jahr 2010 natürlich seinen Zweck.

Die Autorin war damals selbst fast noch ein Kind, sie hat den Roman mit 16 Jahren geschrieben. Alles daran war Skandal. Sie schrieb Sachen wie: "Er und seine aristokratische Pornodarsteller-Abgefucktheit lassen mich vielbeschäftigt und durchtrieben aussehen". Vielbeschäftigt waren auch diese Sätze, wenn auch nicht immer sehr durchtrieben. Aber wenn ihr etwas unverbildet und wüst erscheint, ist die deutsche Literaturkritik sofort aus dem Häuschen, und so war es damals auch. Zumindest bis herauskam, dass Hegemann Teile des Buchs plagiiert hatte. Plötzlich waren sich die Oberlehrer der deutschen Sprachkunst nicht mehr sicher, ob sie eine Debatte über Intertextualität führen oder lieber dieses junge Mädchen schelten sollten, das sie beim Abschreiben erwischt hatten.

Jetzt kommt der morbide, großbürgerliche Heroinflug unter dem Titel "Axolotl Overkill" ins Kino. Hegemann, inzwischen 25 Jahre alt, hat selbst Regie geführt, nach "Torpedo" von 2008 schon zum zweiten Mal. Der Medienwechsel tut dem Stoff gut. Für einen Film muss man seine Schauspieler Dinge tun lassen, die keine abstrakten Begriffe sind. Und so verlässt die 16-jährige Hauptfigur Mifti das Haus, um ausnahmsweise mal zur Schule zu gehen. Draußen ist Endzeit. Menschen liegen reglos auf der Straße. "Atomkrieg, Giftgasangriff, such dir was aus", sagt sie zu ihrer älteren Schwester Annika, die erfolglos versucht, Mifti einigermaßen auf Kurs zu halten, seit die Mutter gestorben ist.

Doch wo sie auftaucht, herrscht Krieg. Schuld daran hat einerseits ihr Kopf. Andererseits liegt es auch an jener Berliner Avantgardeszene, die aus Theaterblut, Sperma, Ecstasy und Filmen wie diesem besteht, im Modus ihrer ewigen Selbstverklärung. Hier gilt Osama bin Laden als "Videokünstler", findet rotweinschwenkend zumindest Miftis Vater. Der ist ein althipper Luftikus und hat Geld. Er tritt mit seiner Tochter an ein Fenster und sagt: "Alles, was das Licht berührt, wird einmal dir gehören, mein Sohn."

Was soll uns diese Szene sagen? Viel, und dann doch wieder gar nichts. Zwischen diesen beiden Polen tanzt und taumelt der Film erzählerisch vor sich hin. Man wird ihm vorwerfen, er berausche sich nur an Oberflächen. Die Kamera macht einfach, was sie will, so eine Unverschämtheit, dafür gab es auf dem Sundance Festival den Kamerapreis. Überhaupt geht es um Freiheitsvollzüge. Ich darf also mein Leben nicht wegschmeißen, scheint Mifti mit dem Schmollgesicht von Jasna Fritzi Bauer zu sagen, ach nein? Na, dann schaut mal her. Klar ist das nicht besonders clever. Der Punkt ist aber, dass sich Frauen diese Form der Unreife im Kino bislang eher selten zugetraut haben. Das getriebene Genie, das sehenden Auges auf den Abgrund zurast, um im Fall noch die Mittelfinger hochzurecken, ist fast immer ein Mann. Frauen hatten eher das Modell "Mängelexemplar" zu sein, wie es im Titel des letztes Jahr verfilmten Romans von Sarah Kuttner heißt. Als dort für eine junge Berlinerin die Welt zusammenbricht, geht sie erst mal in den Baumarkt, Lampen shoppen. Den Rest des Films blickt sie mit großen Augen in die Kamera, bis sie irgendjemand in den Arm nimmt. Zwischendurch beichtet sie brav ihre Neurosen einer Therapeutin.

Jeder liebt junge Menschen, deren Zeit gekommen ist

Mifti hingegen ist ein "Palliativfall der Psychotherapie". So sagt es die Seelenärztin, und dass sie auf die Schwingungen in ihrer Praxis achten müsse, sie arbeite schließlich hier. Ihrer Patientin fällt dazu nichts ein, sie lacht sich ganz einfach kaputt. Nicht bösartig, sondern so wie Menschen lachen, denen der Zeitgeist in den Rücken bläst. Ihr Lachen scheint zu sagen, dass es manchmal besser ist, keine Angst zu haben als keine Probleme. In den Sechzigern ließ man das, sofern man nicht von gestern war, den jungen Männern durchgehen, wenn sie dabei ein bisschen wie James Dean aussahen. Heute lässt man es den jungen Frauen durchgehen, die ihre Beine in zerrissenen Strumpfhosen auf die Konferenztische dieser Welt packen, wenn sie dabei ein bisschen aussehen wie Jasna Fritzi Bauer oder neulich Tiger in "Tiger Girl", nämlich so, als meinten sie es ernst.

Jeder liebt junge Menschen, deren Zeit gekommen ist, auch wenn sie uns auslachen. Oder wenn sie uns als Figuren im Kino auf der Nase herumtanzen, statt richtige Figuren zu sein. Das war bei der Nouvelle Vague genauso. Damals waren Männer die widerspenstigen Streuner und Hänger, die mit ihren Bilderdelirien das Kino überfluteten. Der Rausch, dem sich das Kino in seinen stolzesten Momenten überlässt, entstammt nicht der mechanischen Geschwindigkeit des Schnitts, dem chemischen Überschwang der Drogen. Der eigentliche Overkill ist vielmehr eine schlichte Zärtlichkeit für strandende Figuren, die kommen und gehen dürfen, wie es ihnen gerade passt. Für Szenen, die sich in der Nacht verirrt zu haben scheinen und die wie traumhafte Erinnerungen auch nach dem Kinobesuch wieder aufblitzen. Erinnerungen an das Wodkatrinken in der Früh, weil Champagner "viel zu gefährlich" ist. An die Knarre zwischen den Geschenken auf der Hochzeitsfeier. An den kleinen Jungen im Schrank, der sagt, er fahre "nach Barcelona, kämpfen". An die nächtliche Taxifahrt, zwei Mädchen auf Drogen, mit Glitzer unter den Augen, halb Feenstaub für Fortgeschrittene, halb gefrorene Tränen.

"Axolotl Overkill" macht Lust auf ein neues Kino besoffener Regisseurinnen, die man in keinem Alter "Mädels" nennen würde. Vielleicht ist das der Helene-Hegemann-Trick: Mit Kleinkindern beginnen, bevor es zu spät ist. Und dann direkt in den morbiden, großbürgerlichen Heroinflug schalten.

Axolotl Overkill, Deutschland 2017 - Regie, Buch: Helene Hegemann. Kamera: Manuel Dacosse. Mit: Jasna Fritzi Bauer, Mavie Hörbiger, Laura Tonke, Hans Löw. Constantin, 94 Minuten.

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