Süddeutsche Zeitung

Avignon:Stirb langsamer, Europa

Die "Odyssee" spielt heute im Mittelmeer: Das Theaterfestival in Avignon gibt sich in diesem Jahr politischer denn je. Am stärksten ist es, wenn es aufs Moralisieren verzichtet.

Von  Joseph Hanimann

Als der Festivalleiter Olivier Py sich entschied, als Schwerpunktthema Migration und Exil im Zeichen von Homers und Vergils Heldensagen zu setzen, konnte er sich der Aktualität kenternder Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer schon sicher sein. Braucht Theater aber solche Gegenwartsbezüge? Der Literaturwissenschaftler Olivier Neveux beklagt in seinem gerade erschienenen Buch "Contre le théâtre politique" (Wider das politische Theater) eine Art politischer Aktualitätsfrömmigkeit, die sich über Jahrzehnte hinweg in den öffentlichen Bühnenanstalten zur Selbstlegitimierung festgesetzt habe. Die Bühne sei heute aufgerufen, die maroden Gesellschaftszustände zu zeigen und mit allerlei sozialen Begleitprogrammen zu lindern. Neveuxs Kritik gilt nicht dem politischen Theater an sich, wohl aber dem impliziten Postulat, hinter jeder Aufführung müsse sich eine tagespolitische Tapete aufspannen.

So einfach läuft das jedoch bei dem letzte Woche in Avignon eröffneten Festival nicht. Ein Thema ergibt dort das nächste. Wer von der Odyssee der Flüchtlinge und Migranten spricht, spricht auch vom Sehnsuchtsort Europa, seinen Verheißungen, seinen Verkrampfungen, seinem Versagen. Aber Kommentare, Kritik oder moralische Empörung von der Theaterbühne herab, hat das, was sich gerade auf dem europäischen mare nostrum abspielt, gerade nicht nötig. Wertvoll ist allein das, worauf sich das Theater versteht: erzählen, berichten, bezeugen mit Bildern und Einzelschicksalen auf den Spuren von Homers Odysseus und Vergils Aeneas. Als dokumentarisches Begleitprogramm hat das Flüchtlingshilfswerk SOS Méditerranée eine Ausstellung mit Fotos von Rettungsoperationen beigesteuert. Sie sollen zeigen, dass wichtiger als die Statistiken eintreffender Migrantenströme die konkreten Geschichten mit günstigem oder tragischem Ausgang sind.

Hier setzt die Theaterbühne an. Im Stück "Sous d'autres cieux" haben die französische Regisseurin Maëlle Poésy und ihr Dramaturg Kevin Keiss Motive aus den ersten sechs Gesängen von Vergils "Aeneis" epochenübergreifend zu einem Ostinato des Ausziehens, Herumirrens, Scheiterns oder Ankommens umgeschrieben. In der globalisierten Massenmigration klingt die alte Heldensage nach. Doch inwiefern sind die Gesichtslosen auf den Meeren und den geheim anlegenden Schiffen als Helden zu sehen? Die Aufführung weicht dieser Frage aus mit suggestiven Bildern.

Auch die modernen Odysseen sind eine Heimkehr auf langen Umwegen

Politisch schärfer und dramaturgisch kühner geht die Brasilianerin Christiane Jatahy mit ihrem Stück "O agora que demora" ("Die Gegenwart, die überläuft") vor. Es ist der zweite Teil ihres Zyklus "Unsere Odyssee", der im September auch auf der Ruhrtriennale zu sehen sein wird. Hatte der erste Teil unter dem Titel "Ithaka" Homers Schilderung von der Heimkehr des Odysseus durch Filmeinlagen mit Berichten von modernen Flüchtlingen erweitert, geht der zweite von den dokumentarischen Filmszenen aus, die die Regisseurin in Palästina, Libanon, Griechenland, Südafrika und Brasilien gedreht hat. Sie konfrontierte die dort aufgetriebenen Zeugen mit der ihnen oft unbekannten Geschichte von Odysseus, Penelope und deren Sohn Telemachos. Das sieht zunächst so aus, als würde ihnen etwas vordergründig die Story vom antiken Seefahrer übergestülpt. Die Interaktion, in welche die auf der Bühne vor und hinter der Leinwand plötzlich leibhaftig auftretenden Filmzeugen mit ihrem Projektionsbild dann aber treten, reißt in die endlose Gegenwart ihres Ausharrens zwischen verlorenem Gestern und verbautem Morgen eine Lücke für Erinnerung und Vision.

"Ich will nicht immer aufs Neue meine Geschichte erzählen", schimpft im Film ein in Griechenland gestrandeter Iraner und läuft aus dem Bild. Erzählstreik. Redeboykott. Im Hin und Her zwischen Heldensage und aktueller Zeitgeschichte wird aber wie durch das hin- und herfahrende Schiffchen auf dem Webstuhl einer neuen Penelope die Erzählung enger verknüpft. Besonders bewegend ist das, wenn die junge Syrerin, die da gerade noch auf der Leinwand im libanesischen Auffanglager ihre Trauer über die ihr fortan versagte Heimat bekundete, plötzlich auf der Bühne vor uns steht und erklärt, nach dieser Aufführung werde sie wieder ins Lager und vielleicht ins syrische Gefängnis zurückkehren. Nichts wäre schöner als Rückkehr in die Heimat, sagt sie. Und der Zusammenhang mit Homers Epos wird da plötzlich klar. Diese modernen Odysseen sind ein Gesang nicht des Massenaufbruchs von Süden nach Norden, wie man hinter den Grenzwällen Europas gern argwöhnt, sondern der Heimkehr auf langen Umwegen.

Europa erscheint auf den Bühnen Avignons als das Schattenmonster unserer politischen Gegenwart, weitab schon von Heiner Müllers müdem Ruf "Stirb schneller, Europa" und seinem Bild vom Geisterschiff, das mit dem "verstrahlten Abfall des abendländischen Denkens" durch die Dritte Welt schippert. Das französische Gegenwartstheater stochert tief in der Erblast unseres Kontinents.

Das mit Kohle erbaute Europa verblasst 100 Jahre später im "Great Smog" in London

Als Eröffnungspremiere des Festivals im Papstpalast hat der Dramatiker Pascal Rambert sein neues Stück "Architecture" mit prominenter Besetzung inszeniert, von den Filmschauspielern Jacques Weber und Emmanuelle Béart bis zum Comédie-Française-Mitglied Denis Podalydès. Vorgeführt wird, wie eine Künstlerfamilie in einem fingierten Mitteleuropa im internen verbalen Dauerkrieg an der zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg sich anbahnenden Katastrophe vorbeiredet. Da diese Katastrophe von Nationalismus, Rassismus und Faschismus aber immer nur behauptet wird, verliert sich die Aufführung in lärmender Geschwätzigkeit. Es ist die schwächste Festivaleröffnung in Avignon seit Jahren.

Die in "Architecture" nicht gelieferte Antwort muss man im Stück "Nous, l'Europe - Banquet des peuples" vom Romanautor Laurent Gaudé suchen. Der Regisseur Roland Auzet hat diese Hymne, die der blass gewordenen Idee Europas wieder Leben, Begeisterung, konstruktive Empörung, Atem, Muskelkraft und eine auch für die Völker vernehmbare Stimme geben will, als Nummernrevue inszeniert. Die historischen Ereignisse, aus denen Europa das Wir-Sagen gelernt und dann wieder verlernt hat, werden als Stationen einer ständigen Selbstverleugnung vorgeführt. Das Erwachen des nationalen Selbstgefühls 1848 quer durch den Kontinent schlägt in gegenseitige Selbstzerfleischung um. Die durch die Kohlekraft aufgekommene Aufregung eines Europa "mit schwarzen Fingernägeln und rot leuchtenden Wangen" verblasst ein Jahrhundert später im "Great Smog" 1952 in London. Das Menschenrechtsideal geht in den Migrantenlagern von Calais und den Rettungsschiffen im Mittelmeer unter. Und mit Kirill Serebrennikows Fernregie aus der russischen Haft für "Outside", Stefan Kaegis Kuba-Reportage "Granma" sowie weiteren zwei Dutzend Produktionen wird das etwas einseitig geratene Festivalprogramm weitergehen.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2019
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