Avantgarde-Fotografie der 1930er-Jahre:Sprung ins Auge

Willi Ruge beim Fallschirmsprung über dem Süden Berlins.

1931 fotografierte sich Willi Ruge für die Berliner Illustrirte Zeitung beim Fallschirmsprung über dem Süden Berlins. Dabei hatte er dafür gesorgt, dass zwei andere die Gegenschüsse machen. Auf ihn - aber auch auf seine bangende Ehefrau und das Baby unten auf dem Boden.

(Foto: Museum of Modern Art, New York)

Ein einziges Fest des Sehenkönnens: Das Museum of Modern Art in New York präsentiert seine neue Sammlung von Avantgardebildern aus dem 20. Jahrhundert. Es sind Fotografien, deren Betrachtung ein großes Abenteuer ist.

Von Peter Richter, New York

Nicht nur das Selfie hat seine Vorläufer, sondern auch das sogenannte Extrem-Selfie. Der Berliner Fotograf Willi Ruge - er selbst verstand sich vor allem als Fotoreporter, als Journalist - hat sich schon in der Weimarer Republik gerne bei spektakulären Aktionen selbst aufgenommen: beim kontinuierlichen Betrunkenwerden ("Bierologische Studie") zum Beispiel. Oder beim Sprung aus einem Flugzeug.

Die Fotostrecke "Ich fotografiere mich beim Absturz mit dem Fallschirm" wurde am 24. Mai 1931 in der Berliner Illustrirten Zeitung veröffentlicht, und Ruge hatte, bevor er über dem Süden Berlins fotografierend aus dem Flugzeug sprang, dafür gesorgt, dass zwei andere Fotografen gewissermaßen die Gegenschüsse machen. Auf ihn - aber auch auf seine bangende Ehefrau und das Baby unten auf dem Boden.

Mit diesem Sinn für Dramatik hat Ruge eine Bildsequenz geschaffen, die geradezu danach schreit, speziell ein amerikanisches Publikum zu begeistern, und exakt das geschieht in New York jetzt endlich auch. Ruges Serie ist der von so gut wie allen Kritikern staunend hervorgehobene Auftakt zu "Object: Photo - Modern Photographs, The Thomas Walther Collection 1909 -1949" im Museum of Modern Art.

Das ist mehr als nur eine weitere sehr gute Ausstellung im Foto-Department des MoMA, es ist eine der ambitioniertesten Unternehmungen, die sich das Haus, abgesehen von seiner anhaltenden Bautätigkeit, in den letzten zwanzig Jahren gegönnt hat.

Mit den Verhandlungen um den Ankauf der Sammlung begann die Ära von Glenn Lowry als Direktor, diese Präsentation krönt sie nun. Auch wenn die zuletzt von Vanity Fair wieder aufgebrachten Gerüchte, Lowry könnte zum Auktionshaus Sotheby's wechseln, gar wechseln müssen, wohl doch nicht stimmen. Wie ArtNews berichtet, hat Lowry gerade einen neuen Fünfjahresvertrag unterschrieben. Aber das nur nebenbei.

Diese Fotografien sind mehr als das Bild, das sie zeigen

Die außerordentlichen Bestände an europäischer und amerikanischer Avantgarde-Fotografie aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, die der deutsche Sammler Thomas Walther über die Jahrzehnte zusammengetragen hatte, wurden vom MoMA nicht nur erworben, sondern auch digitalisiert und technisch aufgemessen.

Der Titel deutet es an: Diese Fotografien sind mehr als das Bild, das sie zeigen; es sind physische Objekte, Ergebnisse chemischer Prozesse, Resultate von Experimenten. Nicht nur Willi Ruge hat das Bildermachen zuallererst als sportive Herausforderung begriffen; andere aus seiner Generation haben sie nur nicht unbedingt in den Lüften angenommen, sondern im Studio, bei technischen Experimenten, auf der Bildfläche selbst.

Es sind, natürlich, Namen wie Paul Strand und László Moholy-Nagy dabei, Karl Blossfeldt und Weegee; und es gibt Namen, die fast vergessen sind und die man umgehend auf eigenen Retrospektiven-Ankündigungen im MoMA lesen wollte: die Kunsthistorikerin, Malerin und begnadete Fotografin Käte Steinitz zum Beispiel, die aus Deutschland fliehen musste, als sich andere, Willi Ruge etwa, mit den Nazis arrangierten. Ihre Rückenschwimmerinnen scheinen nicht in Wasser, sondern in Quecksilber zu baden.

Überhaupt interessiert sich diese Fotografie nicht nur für den Körper beim Sport, für das Gesicht des modernen Menschen, für Architektur, für die Großstadt und die Technik, sondern auch und sehr explizit für sich selbst: Jemand wie Paul Citroen taucht mit seinen eigenen herrlichen Arbeiten auf - und dann wiederum als "Kriegerisches Antlitz" auf einem Bild von UMBO (Otto Umbehr).

Lore Feininger porträtiert Erich Salomon, der gleichzeitig sein Kameraobjektiv auf die Fotografin richtet. Alexander Rodtschenko fotografiert - unter einem Fischernetz aus feinen Schatten - ein "Mädchen mit einer Leica", also mit der Taschenkamera, die in den Zwanzigern das Fotografieren erst wirklich demokratisierte.

Das schiere Sehen als großes Abenteuer

Und von dem Deutschen Edmund Kesting über den Schweizer Hans Finsler bis zu dem Franzosen Georges Blanc können sie alle nicht aufhören, Bilder von Glühbirnen zu machen. Metamalerei hat der Kunsthistoriker Victor Stoichita das genannt, wenn Barockkünstler ihr eigenes Tun auf den Leinwänden gleich mitthematisierten.

Die Avantgardefotografie der Zwischenkriegszeit war immer auch Metafotografie. Diese Ausstellung im MoMA ist ein einziges Fest des Sehenkönnens und des Sichtbarmachens. Das mag seltsam klingen in einem Museum, das ja auch sonst der visuellen Kultur gewidmet ist, aber dass das schiere Sehen ein großes, erregendes Abenteuer ist: das sticht einem hier, wie man so sagt, besonders ins Auge.

Object: Photo - Modern Photographs, The Thomas Walther Collection 1909 -1949, Museum of Modern Art, New York, bis 19. April. Der Katalog kostet 75 Dollar

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