Ava Farmehri:Dort oben die Freiheit

"Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen", Ava Farmehris rasende, tödliche Lebensgeschichte einer jungen Iranerin beginnt und endet in einer Todeszelle. Und die Identität der Autorin ist ein großes Geheimnis.

Von Burkhard Müller

Cover für das Literatur Spezial

Ava Farmehri: Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen. Roman. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Edition Nautilus, Hamburg 2020. 285 Seiten, 22 Euro.

Zum Glück hat sie noch ein Taxi gekriegt. Oder doch einen privaten Fahrer, der am Straßenrand Passanten aufliest, wie es in Teheran üblich ist. Sheyda kommt gerade von einem Lover, der ihr unbedingt die Füße küssen musste und sie schwer mit seinen Liebeserklärungen bedrängte. Da ist die Rostlaube, die sie mitnimmt, direkt eine Erlösung. Hier kann die Ich-Erzählerin sich endlich wieder in ihr Alter Ego verwandeln, die weltläufige Kurtisane Beatrice. Aus Italien stammt sie und lässt es den Fahrer spüren. Doch der, ein Armenier, kann, womit in Teheran wirklich keiner rechnen muss, Italienisch, und lässt sie grausam auflaufen.

"'Di che parte dell' Italia sei?'

'Di che... Di...', stotterte ich.

'Di che regione, Nord, Ovest...'

'Sì, sì... di, di...'

'Di Nord?'

'Sì. Di nord.'"

Der Taxifahrer grinst und textet sie immer weiter mit Hochgeschwindigkeits-Italienisch zu. Welche Schmach. Sie will sterben in diesem Augenblick. So verläuft Sheydas ganzes Leben. Sie ist romantisch, aufsässig, hochfahrend, gönnt sich in der repressiven und frauenfeindlichen Theokratie des Iran den lebensgefährlichen Luxus, ältere Männer zu verführen, was so lachhaft leicht ist, wenn sie glutvoll hinter ihrem Tschador hervoräugelt, voll schnippischen Hohns gegen ihre Liebhaber, die vor allem eins nicht dürfen: einander begegnen.

Der Leser fühlt: Gutgehen kann das nicht. Wo kommen Lügner hin?, fragt der Fahrer sie auf Italienisch, das sie plötzlich versteht. "'Inferno', sagte ich, während mein unverdautes Frühstück in der Speiseröhre Achterbahn fuhr. 'Inferno.'" Und so kommt es. Der Roman beginnt und endet in der Todeszelle. Dort befindet sich Sheyda wegen Mordes an ihrer Mutter. Was es damit auf sich hat, erfährt der Leser spät. Doch sei hier immerhin mitzuteilen erlaubt, dass sie zuletzt die Lüge mehr liebt als ihr Leben.

Das Buch spielt in den Krisenjahren der iranischen Revolution und des langen zähen Krieges gegen den Irak in den Achtzigern. Die jungen Männer sterben als "Märtyrer" an der Front wie die Fliegen; nur nicht der sanfte und genialische Krüppel Mustafa, ihr Nachbar, den die noch kindliche Sheyda anbetend liebt, obwohl sie ihn nur als fenstergerahmtes Bild erlebt. Dann begeht er Suizid - kann man, fragt sich der Leser, wenn man einerseits dem mörderischen Krieg entflohen ist, andererseits bildschöne junge Frauen zu Füßen liegen hat, etwas Dümmeres tun, als sich umzubringen?

Und gerade darum macht er es. Es ist ein Roman nicht des Wahn-, aber doch des ins Bizarre gesteigerten Eigensinns. Er beherrscht das symbiotische Verhältnis der Heldin und ihrer Mutter, deren Liebe zueinander sich in Hassausbrüchen austobt, während der vernünftigere Vater recht blass daneben steht. Er stirbt dann auch recht bald bei einem Unfall. Sheydas Mutter dreht nunmehr vollends durch und beginnt, obwohl nicht mehr ganz jung, insgeheim ein Leben als Prostituierte. Ihre Kunden sind ausgerechnet die frommen Mullahs. Weil sie sich so schuldig dabei fühlen, stellen sie wenig Ansprüche und zahlen gut. Das ist willkommen, denn Geld ist seit dem Tod des Vaters knapp. Das nun wiederum macht die Tochter, die endlich dahinterkommt, rasend.

Nicht nur das Frühstück in der Speiseröhre, sondern die emotionale Gesamtlage dieses Buchs fährt beständig Achterbahn. Es wird viel erbrochen und ins Bett genässt; aber es steckt auch voller poetischer Schönheiten, mit Rosen, Nachtigallen, Frühlingsregen. Paradies und Verdammnis liegen oft nur Atemzüge voneinander.

Von der Autorin gibt es kein Bild. Sie lebt in Kanada, schreibt auf Englisch und hasst den Krieg

Sheyda, sonst labil zwischen Übermut und Verzweiflung schwankend, erträgt das iranische Gefängnis, wo Misshandlungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, erstaunlich gefasst, als wäre das alles auch nicht schlimmer, als was ihr früher in der Wildbahn ihres Lebens zugestoßen ist.

Dass sie ausgepeitscht wird, erweckt in ihr vor allem Verwunderung: Wie können Frauen Frauen so etwas antun? Dabei weiß sie selbst am besten, was sie anderen Frauen schon angetan hat. In ihrer Zelle benützt sie die dort herumliegenden ausgerissenen Fingernägel der Vorbewohnerinnen, um sich daraus Orakel zu legen. Schließlich wird sie in der Morgendämmerung hinausgeführt, man schlägt ihr einfach so noch ein paar Zähne aus.

Sie und einige Schicksalsgenossen sollen öffentlich hingerichtet werden. Im Iran nimmt man dafür einen Baukran. Die Männer haben Vortritt. Sie zucken noch kurz mit den Beinen, dann wirken sie friedlich, als wären sie im Stehen eingeschlafen. "Ciao, bello, ciao. Bade im Licht, mein Freund.", denkt Sheyda, die als nächste dran ist.

"'Warum lächelst du?', fragte die letzte Freundin, die ich je haben würde. 'Wo schaust du hin?'

'Sieh mal', sagte ich und wandte mein Gesicht der hinter den Männern aufgehenden Sonne zu. 'Was für ein atemberaubender Anblick.'

'Vier Erhängte sind für dich ein atemberaubender Anblick?'

'Nein. Schau genauer hin. Da oben! Siehst du nicht?'

'Wo denn?', fragte sie und suchte den Himmel mit dem Blick ab. 'Was denn?'

'Sieh nur! Asadi ...

Sieh nur. Dort oben!

Die Freiheit!'"

Von diesem letzten Wort fällt, wie von der eben aufgehenden Sonne im Augenblick der Hinrichtung, ein jähes Licht, das die ganze wirre Landschaft dieses Buchs und des Lebens seiner Heldin auf einmal in hellem Glanz erstrahlen lässt. Freiheit ist immer möglich, jeder Mensch kann sie sich nehmen, selbst in einem Land wie dem Iran, der alle und speziell die Frauen mit Zwang und Gewalt niederhält. Aber man darf keine Angst vor dem Tod haben. Das ist herrlich und grauenhaft. Sheyda wird gerade mal zwanzig, was bei ihrerKompromissosigkeit fast ein erstaunlich hohes Alter ist.

Die Autorin Ava Farmehri ist vorsichtiger. Offenbar kennt sie genau, wovon sie schreibt. Sie weiß, dass, wer das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran auch nur fotografieren will, schon allein deswegen sterben kann. Sie sei, erfährt man vom Verlag, "im Nahen Osten" aufgewachsen, lebt in Kanada, schreibt auf Englisch, liebt Katzen und hasst Krieg; mehr Information gibt es nicht. Der Name ist ein Pseudonym, ein Foto von ihr anscheinend nicht verfügbar.

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