Autor Dmitry Glukhovsky:"Viele Russen glauben lieber der Lüge - selbst wenn sie die Wahrheit kennen"

Dmitry Glukhovsky

Der russische Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky spricht über sein Buch "Metro 2035".

(Foto: privat)

Der russische Science-Fiction-Autor Dmitry Glukhovsky kritisiert mit seinem neuen Roman "Metro 2035" das System Putin. Und zeigt sich enttäuscht von seinen Landsleuten.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Artjom ist kein Held. Er misstraut dem eigenen Körper, den er von Krebsgeschwüren befallen glaubt. Sex ist für ihn verbunden mit Erniedrigung und Versagen. Er hält Distanz zu den Menschen, die mit ihm im verzweigten Moskauer Metro-System leben - der Ziehvater, die Ehefrau, der Schwiegervater, die Kameraden.

"Metro 2035" heißt die düstere Zukunftsversion des Moskauer Autors Dmitry Glukhovsky, deren Hauptfigur Artjom ist und die es nun in deutscher Sprache gibt. Artjom gehört zu den einzigen Überlebenden eines verheerenden Atomkriegs, der die Moskauer in den Untergrund trieb. Das Buch ist der letzte Teil einer Trilogie, die den 1979 geborenen Glukhovsky zu einem der bekanntesten russischen Science-Fiction-Autoren machte.

Mit "Metro 2035" kritisiert Glukhovsky die russische Gesellschaft

Bereits als 17-Jähriger begann er mit seinem ersten Roman "Metro 2033", stellte das unfertige Manuskript ins Internet und ließ die Fans mitentscheiden über den Ausgang von Artjoms erstem Abenteuer. In ihm kämpfte Artjom gegen schwarze Mutanten, das Resultat der atomaren Verstrahlung. 2005 erschien "Metro 2033" in Russland in Buchform, wurde zum Bestseller und in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Es folgte der zweite Band "Metro 2034", deren Hauptperson ein alter Untergrund-Bewohner namens Homer ist.

In "Metro 2035" kämpft Artjom nun nicht mehr gegen Mutanten, sondern gegen die eigenen Leute. Der junge Mann ist fest davon überzeugt, dass es irgendwo noch andere Überlebende des Atomkriegs gibt. Immer wieder dringt er an die Oberfläche vor, riskiert die eigene Gesundheit und gilt unter seinen Mitmenschen längst als Spinner. Nur Homer glaubt ihm, der Held des zweiten Buchs. Gemeinsam entdecken sie eine gigantische Verschwörung, einen Geheimbund, der die Metro-Bewohner belügt, um sie von der Welt da draußen fernzuhalten.

"Einige Fans haben sich beklagt: Wo sind denn die Mutanten? Ist das überhaupt Science-Fiction?", sagt Glukhovsky bei einem Treffen in Berlin. Er lacht darüber. Denn für ihn ist die Sache klar: "'Metro 2035' ist ein politisches Manifest." Er beschreibe in seinem neuen Buch keine ferne, fiktive Zukunft, sondern sein Heimatland, wie er es heute empfindet.

Wie der Protest aus Russland verschwand

Inzwischen, so sagt es Glukhovsky, habe die absurde Realität in seinem Heimatland die Vorstellungskraft des Fantasy-Autors überstiegen. "Was in den vergangenen Jahren in Russland geschehen ist, hat mich sehr schockiert", sagt er. 2011 noch habe er nach den Parlamentswahlen mit seinen Freunden auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz gegen den damaligen Premierminister Wladimir Putin demonstriert. Kurz darauf sei Putin als Präsident zurückgekehrt, habe 2014 den Krieg mit der Ukraine begonnen und die Krim besetzt.

Eine gigantische Propagandakampagne habe Putin mit Hilfe der staatstreuen Medien inszeniert. Putins Beweggründe sind für Glukhovsky klar. Er wolle den Leuten zeigen: Seht her, was passiert, wenn Demonstranten ein System zum Einstürzen bringen. Mit Erfolg. "Auf einmal waren die Proteste in Russland verschwunden und viele meiner Freunde waren überzeugt, dass in der Ukraine Faschisten die Macht ergriffen hätten."

Seine Landsleute steckten immer noch in den ideologischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts fest, glaubt Glukhovsky. "Das ist kein Wunder: Seit Putin an der Macht ist, hat der Kult um den Großen Vaterländischen Krieg immer hysterischere Züge angenommen", sagt der Autor. "Großer Vaterländischer Krieg" heißt der Zweite Weltkrieg in Russland. "Von Jahr zu Jahr gab es mehr patriotische Filme, pompösere Werbung, größere Militärparaden", sagt Glukhovsky. Damit fülle Russland das ideologische Vakuum, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden sei.

Die Einsamkeit der Putin-Gegner

Eine echte Aufarbeitung der Geschichte, des stalinistischen Terrors, der Kolonialisierung Osteuropas, fehle hingegen. Und so glaube ein Großteil seiner Mitbürger heute wieder, gegen den faschistischen Westen kämpfen zu müssen.

An die alten ideologischen Gräben erinnert auch "Metro 2035". Im verzweigten System des Moskauer Untergrunds bekriegen sich die Soldaten der "Roten Linie" mit den Faschisten des an Nazi-Deutschland angelehnten "Reiches". Wobei hinter beiden angeblich verfeindeten Lagern dieselben Köpfe stecken. Der alte Ideologie-Kampf ist bloß Ablenkung für das Volk - damit es nicht wie Artjom auf die Idee kommt, den Weg nach draußen zu suchen.

Science-Fiction als Gesellschaftskritik

Glukhovsky knüpft damit an eine lange Tradition in der russischen Literatur an. In Science-Fiction und Fantastik verkleidete Kritik am politischen System hat dort eine lange Tradition. 1920 erschien in der noch jungen Sowjetunion Jewgeni Samjatins "Wir", in dem er ein totalitäres System irgendwann "nach der allerletzten Revolution" beschreibt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts publizierten die Brüder Arkadi und Boris Strugazki zahlreiche Science-Fiction-Romane, die Seitenhiebe auf den unerfreulichen sowjetischen Bürokratie-Alltag enthielten. Der junge Autor Glukhovsky fühlte sich von ihnen inspiriert, 2010 schrieb er das Vorwort zu einem Sammelband ihrer wichtigsten Werke.

"Metro 2035" ist aber mehr als eine politische Anklageschrift, es bietet auch einen Blick in das Innere des Autors. Die Einsamkeit und Verunsicherung des Protagonisten Artjom spiegeln Glukhovskys eigene Gefühle wieder. "Manchmal frage ich mich: Schreibe ich gegen die Interessen der Leute an? Wollen die Russen einfach keine Freiheit?" Eines jedoch glaubt er nicht: dass reine Unwissenheit hinter der Putin-Begeisterung seiner Landsleute steckt. Er kenne viele gebildete, weit gereiste Menschen, die Zugang zu ausländischen Medien hätten und das System trotzdem stützten. "Viele Russen glauben lieber der Lüge - selbst wenn sie die Wahrheit kennen. Das ist doch erschreckend."

Moderne Klamotten ersetzen die Freiheit

Warum ist das so? Eine endgültige Antwort auf diese Frage hat Glukhovsky noch nicht gefunden. "Die Motive von Putin sind mir klar. Der Teufel tut eben sein Werk. Aber was treibt seine Unterstützer an?" Vielleicht liege es daran, dass die Russen im Privatleben einige Freiheit genössen: "Sie können reisen, Geld verdienen, moderne Klamotten kaufen." Viele seiner Bekannten hätten sich auf diese Weise in eine Art innere Emigration verabschiedet, nach dem Motto: Was gehen mich die manipulierten Nachrichten und ein Krieg in der Ukraine an, solange ich einen Sneakers-Laden in Moskau eröffnen kann?

Glukhovsky fühlt sich ihnen so fern wie sich Artjom den Metro-Bewohnern fern fühlt, die lieber im Dunkeln hocken, als die echte Welt zu erobern. Diese Distanz wird die Hauptfigur im Laufe des Romans nicht überwinden. Die große Revolution bleibt aus in "Metro 2035" - so wie sie nach Ansicht von Glukhovsky in Russland ausbleiben wird. Eine traurige Bilanz des 36-jährigen Autors, der wie viele Angehörige seiner Generation ohnehin nicht mehr daran glaubt, dass auf eine Revolution tatsächlich ein besseres System folgt.

Damit immerhin sind die jungen Russen nicht allein auf der Welt.

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