Süddeutsche Zeitung

Autobiografie:Wie sie wurde, wer sie ist

"Afrika, wo bist du?" Maryse Condé, die Grande Dame der karibischen Dekoloniali­sierungs­literatur, hat zweimal über ihre Herkunft und Identitätssuche geschrieben. Beide Bücher erscheinen jetzt auf Deutsch.

Von Joseph Hanimann

Maryse Condé gehört zu den bekanntesten Stimmen des literarischen Bermudadreiecks zwischen Afrika, Europa und Amerika, das den schönen Namen Karibik trägt. Die heute Dreiundachtzigjährige stand in letzter Zeit auch immer wieder ganz oben auf der Liste möglicher Literatur-Nobelpreisträgerinnen. Aus ihren zwei Dutzend Romanen und Erzählungen schimmerten schon manche Einzelheiten eines bewegten Schriftstellerinnenlebens durch. Zwei sehr unterschiedliche autobiografische Bücher gehen nun näher auf einige Perioden ein.

Die im Original 2012 erschienene Autobiografie "Das ungeschminkte Leben" konzentriert sich auf die entscheidenden Jahre, in denen die junge Frau 1959 von Paris aus auf eine lange Suche nach ihren fernen afrikanischen Wurzeln aufbrach. Und sie nicht fand. Nach Paris gekommen war Maryse Boucolon, Tochter einer zum Mittelstand aufgestiegenen schwarzen Großfamilie im französischen Überseegebiet Guadeloupe, eigentlich fürs Literaturstudium. Die Lektüre des martinikanischen Dichters Aimé Césaire, des Theoretikers der "Négritude", und lange Diskussionsabende im Kreis afrikanischer Studenten in Paris hatten ihr aber in den Kopf gesetzt, Afrika sei nicht nur der Schlüssel zu ihrem tieferen Sein, sondern auch der Ausweg aus den komplizierten Lebensverhältnissen, in die sie geraten war. Nach einer enttäuschten Liebschaft hatte sie einundzwanzigjährig den Schauspielschüler Mamadou Condé aus Guinea geheiratet, mit dem das Zusammenleben aber keine drei Monate dauerte. Allein mit (zunächst) zwei Kindern ging sie als Französischlehrerin an die Elfenbeinküste, später nach Guinea, Ghana und schließlich Senegal.

Das neue Fahrrad, die Freiheit am Strand - und endlich das Selbstbewusstsein

Zehn Jahre lang erlebte die Zugereiste so aus unmittelbarer Nähe den schwierigen Weg dieser Länder in die Unabhängigkeit. Sie konnte die Spannungen unter rivalisierenden Volksgemeinschaften beobachten und war auch Zeugin des nicht einfachen Verhältnisses zwischen Afrikanern und Leuten aus den Antillen. Am Unabhängigkeitstag der Elfenbeinküste 1960 wurde ihr der Zugang zu den Feierlichkeiten verwehrt und sie fuhr im Buschtaxi enttäuscht in ihre Wohnung in einer Vorstadt von Abidjan zurück. "Wird sich eh nichts ändern", lautet der knappe Kommentar ihrer Nachbarn, die sich beim Kartenspiel vom Jubel schon gar nicht erst haben stören lassen.

In Guinea war sie dann Zeugin, wie das sozialistische Regime Sékou Tourés in Mangelwirtschaft, Korruption und Gewaltherrschaft versank. In Ghana wurde sie nach einem Staatsstreich 1966 als angebliche Spionin verhaftet und ausgewiesen.

Überzogene Idealvorstellungen von Afrika habe sie allerdings nie gehabt, beteuert die Autorin in ihrem Buch. Statt von den Düften und Farben, wie die westlichen Besucher, sei sie von Anfang an eher von dem Elend auf den Straßen beeindruckt gewesen. Dem Geheimnis dieses Kontinents wollte sie aber auf den Grund gehen. Wie einst Diogenes in Athen bei der Suche nach einem wahren Menschen hätte sie gern zur Laterne gegriffen und um sich gerufen: "Afrika, wo bist du?"

So eine Suche könnte ausgiebig Stoff fürs literarische Schreiben liefern. Nicht bei Maryse Condé. Sie sei in jenen Jahren zu sehr mit ihren Alltagsproblemen und mittlerweile vier Kindern beschäftigt gewesen, gesteht sie. "Ich könnte Sie mir als Romanautorin vorstellen", sagte in Conakry einmal eine Bekannte zu ihr, "und wir lachten beide über den gelungenen Witz". So war die Autorin schon vierzig, als ihr erster Roman erschien. Die ständig Getriebene musste erst lernen, das Erlebte und das Gedachte zusammenzubringen. Von Aimé Césaire hatte sie in jungen Jahren die Vorstellung eines wesenhaft schwarzafrikanischen Kulturerbes übernommen. Bei Frantz Fanon entdeckte sie dann die scharfe sozio-politische Analyse, die an kulturelle Wesenszüge nicht glaubt. Die langen Um- und Irrwege führten aber letztlich doch zum Ziel. Ein "endlich gezähmtes Afrika", schreibt die Autorin, "sollte in verwandelter Form in alle Winkel meiner Phantasie eindringen und nunmehr nur noch Stoff für zahlreiche Geschichten abgeben".

Dieser Satz ist aber auch schon das Ende des Buchs. Die nach Frankreich und dann in ihr heimatliches Guadeloupe zurückgekehrte Maryse Condé beginnt mit dem Romanschreiben. Den Bericht der zehn Jahre, die diesem Schritt vorausgingen, hätte man sich etwas aufschlussreicher gewünscht. Selbstironisch und etwas selbstgefällig verliert sich die Autobiografie gern in Anekdoten. Maryse Condé war eine wichtige Figur im Übergang von den Pionieren der karibischen Dekolonialisierungsliteratur zur Nachfolgegeneration Patrick Chamoiseaus oder Raphaël Confiants. Dank ihrem Werk sei den afro-amerikanischen Schriftstellern der "afrikanische Spiegel" zerbrochen, bezeugten diese ihr später. Hintergründe dazu sucht man in diesen Lebenserinnerungen vergebens.

Anders verhält es sich mit den Kindheitserinnerungen "Mein Lachen und Weinen". Dieses im Original bereits 1999 erschienene Buch lässt hinter den frisch erzählten Anekdoten prägnante symptomatische Situationen aufblitzen. Der Eifer, mit dem ihre Eltern bei ihren Paris-Besuchen französischer wirken wollten als die Franzosen, waren der Kleinen Ansporn, trotzig auf ihren schwarzen Kraushaarzöpfen zu beharren. Dass im Milieu der "Grands Nègres", wie ihre Eltern sich bezeichneten, die Mütter nicht in weiten Gewändern zu Hause Wurzelgemüse kochten und abends den Kindern kreolische Geschichten erzählten, sondern meist als französische Beamte eine Berufstätigkeit ausübten, machte der Tochter allerdings auch das Anderssein gegenüber den meisten Klassenkameraden deutlich. Erst als die Sechzehnjährige mit ihrem neuen Fahrrad unter sengender Sonne die engen Küstenstraßen entlang radelte und sich neben den Fischerdörfern einfach in den Sand fallen ließ, ohne sich darum zu kümmern, dass sie abends noch hässlicherer dunkelgebräunt, wie ihre Mutter fand, nach Hause kommen würde, fand sie zu einem soliden Stück Selbstbewusstsein. Jeder Gedankengang, das zeigen diese beiden vorzüglich übersetzten autobiografischen Bücher, beruht bei Maryse Condé auf konkreter Lebenserfahrung.

Maryse Condé: Das ungeschminkte Leben. Autobiografie. Aus dem Französischen von Beate Thill. Luchterhand, München 2020. 304 Seiten, 22 Euro.

Maryse Condé: Mein Lachen und Weinen. Wahre Geschichten aus meiner Kindheit. Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Litradukt Verlag, Trier 2020. 149 Seiten, 13 Euro.

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SZ vom 14.10.2020
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