Autobiografie eines Teilnehmers:Die Tour der Leiden - eine Sentimental Journey

3 Sekunden zu spät nach 4506 Kilometern: 1932 fuhr der Deutsche Kurt Stöpel auf Platz 2 der Tour de France. Ein Mann, den alle den Philosophen nannten, weil er es irgendwie auch noch schaffte, nach härtesten Etappen stilvoll Tagebuch zu führen. Diese Memoiren sind gerade wieder aufgelegt worden, und sie sind der pure Lesegenuss - nicht nur für Tour-Fans.

ALEX RÜHLE

Er ist schlechter vorbereitet als sein Konkurrent; er hat nicht so viele Helfer wie sein Gegner; alle Trainer, Journalisten, Rennleiter denken im Verlauf der Tour, dass von seinem Talent her eigentlich der Deutsche gewinnen müsste - wie bekannt das doch alles klingt.

Autobiografie eines Teilnehmers: Nach der Siegerehrung fuhren Leducq und Stöpel (Bild) in einem offenen Wagen durch das jubelnde Paris, wurden auf einen Balkon gehievt und Stöpel rief: ¸¸Auf die deutsch-französische Freundschaft!" Danach besuchte er allein das Grab von Heinrich Heine.

Nach der Siegerehrung fuhren Leducq und Stöpel (Bild) in einem offenen Wagen durch das jubelnde Paris, wurden auf einen Balkon gehievt und Stöpel rief: ¸¸Auf die deutsch-französische Freundschaft!" Danach besuchte er allein das Grab von Heinrich Heine.

(Foto: Fotos: Verlag)

Als Jan Ullrich 1996 Zweiter bei der Tour de France wurde, erhielt er ein Telegramm aus dem Seniorenheim Hottengrund in Berlin-Gladow. Ein 88-jähriger Mann namens Kurt Stöpel schrieb ihm, er habe ¸¸mit heißem Herzen" Ullrichs Fahrt aufs Podium verfolgt. Kurt Stöpel? Ein Name, der selbst vielen Sportbegeisterten nichts sagt. Dabei wurde er 1932 Zweiter. Drei Sekunden hinter dem Franzosen Andre Leducq.

Drei Sekunden. Ein Atemzug. Zehn Meter. Oder die Zeit, die man braucht, um den folgenden Satz zu lesen: ¸¸In Paris nimmt Leducq den Strauß, den er bei der Ehrenrunde bekommen hat, und überreicht ihn meiner Frau: ¸¸Madame Stopel", sagt er bescheiden, ,wir beide, Kurt und ich, haben die Tour gewonnen!" Was für ein nobles Duell.

Kurt Stöpel führte, als er 1932 an der Tour teilnahm, Tagebuch. Rätselhaft, wie er Zeit und Kraft dafür fand: 4506 Kilometer lang war die Tour in dem Jahr; die des Jahres 2004 ist 1150 Kilometer kürzer. Die längste Etappe begann bei Fackelschein um zwei Uhr morgens und führte über 387 Kilometer und dreizehn Stunden von Nantes nach Bordeaux. Stöpel schaffte es trotzdem irgendwie, abends in Abrissen die epischen Unwetteretappen und lebensgefährlichen Abfahrten, die Hitzeschlachten in den Pyrenäen und sein Duell mit André Leducq zu skizzieren. Zwanzig Jahre später holte er seine Aufzeichnungen wieder hervor und machte daraus ein Buch, das nun im Covadonga-Verlag neu aufgelegt wurde.

¸¸Tour de France - Ein Erlebnisbericht von der Grande Boucle 1932" ist wohl der packendste, der literarisch anspruchsvollste Tourbericht, den es von einem ehemaligen Teilnehmer gibt. ¸¸Es ist eine tragische Nacktheit, das zerklüftete Felsgestein scheint uns angrinsen zu wollen. Die Wolken hüllen uns ein, als hätten sie Mitleid mit uns keuchenden Ameisen, die es wagen, die Riesen der Bergwelt herauszufordern." Die Riesen der Bergwelt, die tragische Nacktheit - aus Stöpels Naturbeschreibungen spricht ein spätromantisches Pathos, das heutigen Lesern fremd sein mag. Aber wie spannend lesen sich seine Beschreibungen im Vergleich zu den Sätzen, die Jan Ullrich in seiner gerade erschienenen Autobiographie aneinander reiht. Bei Ullrich wird selbst der alles entscheidende Anstieg, die Fahrt auf den Galibier, während der er 1998 das Gelbe Trikot an Marco Pantani verlor, zur sprachlichen Flachetappe: ¸¸Ich hatte einen Platten. Bei strömendem Regen musste ich anhalten und auf unser Fahrzeug warten. Allmählich wurde ich fatalistisch. Nach dem Radwechsel versuchte ich, meinen Rückstand zu verkürzen. Doch ich fühlte mich leer und ausgepumpt und mir war immer noch furchtbar kalt." So haspelt er sich mit seinem Co-Autor und hagiografischen Wasserträger Hagen Boßdorf durch ein flurbereinigtes Deutsch, Hauptsatz an Hauptsatz, im sprachlichen Leerlauf.

Roland Barthes beschreibt in den ¸¸Mythologies" die Tour als Epos der modernen Zeiten durch eine ¸¸homerische Geographie". In Stöpels ¸¸Erlebnisbericht" ist die Natur belebt wie im mythisch-homerischen Zeitalter. In Ullrichs Tunnelblickprosa taucht sie gar nicht erst auf.

Einer der rhetorischen Kunstgriffe Homers ist das Epitheton ornans, der schmückende Beiname. Die rosenfingrige Morgenröte, der listenreiche Odysseus . . .Stöpel taucht in den Berichten von L"Equipe, dem Zentralorgan der Tour, immer nur auf als ¸¸Stopel, le philosophe". Der ehemalige Office-Boy bei United Press, der zunächst Journalist werden wollte, dann aber kündigte, weil ihm als Amateur nur die Stunden zwischen zwei und sieben Uhr morgens zum Training blieben, sprach fließend Englisch, Französisch, Spanisch. Ganz im Sinne ihres Erfinders Henri Desgrange verstand er die Tour als Tour d"horizon: Er nutzte die Ruhetage, um sich die jeweiligen Orte anzusehen, mit Einheimischen zu sprechen, durch das Casino von Monte Carlo zu schlendern. . . Im Pyrenäenort Luchon besucht ihn sein Konkurrent Andre Leducq. ¸¸Er ist in seinem Schlafanzug über die Straße gekommen. Wir sprechen kaum über das Rennen, sondern über schöngeistige Dinge."

Desgrange, der zeitweilig eine Theaterzeitschrift geleitet hat, der sich an mehreren Romanen versuchte und gerne endlose Strophen aus Hugo-Gedichten rezitierte, was sich heftig auf den dithyrambischen Schwulst seiner Equipe-Reportagen auswirkte, fraß einen Narren an dem Deutschen: Schöngeistige Dinge! In Luchon! Sacre bleu, ce Küürt Stopel!

Seit 1930 wurde die Tour mit Nationalmannschaften gefahren. 1932 traten fünf Nationalmannschaften mit jeweils acht Fahrern an. Trotzdem blieben die Fahrer auf fast schon grausame Art und Weise auf sich selbst gestellt: Noch immer galt Desgranges eiserne Regel, derzufolge den Fahrern alle fremde Hilfe verboten war. Auf der dritten Etappe musste Stöpel siebenmal vom Rad steigen und seinen Reifen wechseln. Die Franzosen hatten eigene Fabrikate aufgezogen, die Deutschen waren auf die von der Rennleitung gestellten angewiesen. Stöpel selbst fängt nie an zu spekulieren, aber beim Lesen geht es einem immer wieder wie dieser Tage mit Jan Ullrich und man übt sich in schmerzlichen Konjunktiven: Wenn er doch nur. . . Hätte er bloß . . . Hat er aber nicht. Und so gewann immer wieder sein Freund Leducq und bekam, noch so eine grausame Regel von Desgrange, für jede gewonnene Etappe vier Minuten Zeitgutschrift. Nur deshalb wurden aus den 3 Sekunden Vorsprung in den Statistiken 24 Minuten.

Als Didi Thurau 1977 die Franzosen begeisterte und hierzulande überhaupt zum ersten Mal dafür sorgte, dass sich größere Teile der Bevölkerung für die Tour de France zu begeistern begannen, begrüßte ihn der Bürgermeister Jacques Chirac in Paris mit den Worten: ¸¸Außer Adenauer hat kein Deutscher so viel für die deutsch-französische Freundschaft getan wie er." Nun, Stöpel fuhr zu einer Zeit, als Adenauer noch Oberbürgermeister von Köln war. Nach der Siegerehrung jedenfalls fuhren Leducq und er in einem offenen Wagen durch das jubelnde Paris, wurden auf einen Balkon gehievt und Stöpel rief: ¸¸Auf die deutsch-französische Freundschaft!" Danach besuchte er allein das Grab von Heinrich Heine.

Nach dem Krieg arbeitete Kurt Stöpel als Dolmetscher, beim Alliierten Kontrollrat und beim Berliner Senat. Auf seine alten Tage sattelte er um und wurde Taxiunternehmer, weil er es liebte, ausländischen Gästen Berlin zu zeigen. Am 11. Juni 1997, drei Wochen bevor die Tour begann, auf der Jan Ullrich als erster Deutscher die Tour gewinnen sollte, wollte sich Kurt Stöpel in seinem Altersheim Hottengrund etwas zu trinken holen. Aus Versehen griff er zu einer Flasche Reinigungsmittel. Er starb noch am selben Tag.

KURT STÖPEL: Tour de France. Ein Erlebnisbericht von der ,Grande Boucle" 1932. Covadonga-Verlag, Bielefeld 2004. 188 S. 24,80 Euro.

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