Autobiografie der Nazi-Jäger Klarsfeld:Die wahre Antifa

Als die Deutschen nur vergessen wollten, jagten Beate und Serge Klarsfeld Altnazis. Jetzt haben sie ein Buch mit ihren Erinnerungen geschrieben.

Von Tim Neshitov

Es ist anzunehmen, dass ohne den Einsatz von Serge und Beate Klarsfeld viele NS-Verbrecher einen gemütlichen Lebensabend genossen hätten. Das hätte zwar, so bitter das ist, die Mehrheit der Deutschen (und nicht nur der Deutschen) nicht weiter gestört, aber es wäre trotzdem falsch gewesen. Serge und Beate Klarsfeld mussten sich in den Sechziger-, Siebziger-, Achtzigerjahren schon sehr ins Zeug legen, damit Zeitgenossen wie Kurt Lischka, Klaus Barbie oder Herbert Hagen vor Gericht gestellt wurden. Und wären die Herren nicht vor Gericht gestellt worden, so war dieses deutsch-französische Paar bereit, sie eigenhändig zu bestrafen.

Er, Historiker, Anwalt, Sohn eines französischen Widerstandskämpfers, eines Juden. Serge Klarsfelds Vater schlug einem Aufseher in Auschwitz ins Gesicht und wurde dort ermordet. Sie, Journalistin, Tochter eines Berliner Versicherungsangestellten, der an der Ostfront gekämpft hatte. Sie lernten sich in Paris am Metro-Bahnsteig kennen an dem Tag, an dem der Mossad Adolf Eichmann entführte. Der 11. Mai 1960, ein Zufall.

Kurz nachdem sie ein Paar geworden waren, begannen die Klarsfelds ihren Kampf für verspätete Gerechtigkeit, als hätten sie nur auf diese Begegnung am Bahnsteig gewartet. Sie waren in diesem Kampf zu vielem bereit, zu sehr vielem, wenn man ihrer nun auf Deutsch erschienenen Autobiografie glauben darf. Dieses Erinnerungsbuch, das den schlichten Titel "Erinnerungen" trägt (Piper, 624 Seiten, 28 Euro), ist erhellende und gleichzeitig spannende Lektüre. Es liest sich wie eine Anklageschrift, ein Kriminalroman, eine Liebesgeschichte, eine Abrechnung mit Zeitgeistern, ein Aufruf an die kommenden Generationen.

Beate und Serge Klarsfeld 1979

Kennengelernt am Tag, an dem der Mossad Eichmann schnappte: die Klarsfelds 1979 in Köln.

(Foto: Wilhelm Leuschner/dpa)

"Wir haben aus unseren Erfahrungen gelernt, dass es möglich ist, über sich selbst hinauszuwachsen", schreiben die Klarsfelds. "Unsere Leser werden feststellen, dass wir dazu imstande waren und dass auch sie es sein werden, wenn es nötig ist."

Beate haut dem Bundeskanzler eine runter

Als sie sich kennenlernten, war Beate Klarsfeld ein Au-pair-Mädchen, 21 Jahre alt. Sie wusste wenig über den Holocaust, denn man lernte damals so etwas nicht in den Schulen West-Berlins. Serge, vier Jahre älter, wusste viel über den Holocaust, aber so gut wie nichts über Juden. Sie hatten jedenfalls nicht vor, ein halblegales Leben ohne sicheres Einkommen zu führen, als "Ritter des guten Gedächtnisses", wie sie sich in ihrer Autobiografie etwas pathetisch ausdrücken.

Beate Klarsfeld spricht längst Deutsch mit französischem Akzent, sie ist 76 Jahre alt und in Deutschland vor allem für die Ohrfeige bekannt, die sie im November 1968 auf einem Parteitag der CDU dem sehr höflichen Kurt Georg Kiesinger verpasste ("Nazi, Nazi!"). Kiesinger war ein ehemaliger NS-Propagandist, der zwei Jahre zuvor Bundeskanzler geworden war. Beate Klarsfeld bekam für ihre Ohrfeige einen Blumenstrauß von Heinrich Böll, viel Altherrenhäme in den Medien und eine Gefängnisstrafe von einem Jahr, die sie jedoch als französische Bürgerin nicht antreten musste, da die Richter einen internationalen Skandal befürchteten.

Was die Klarsfelds in den folgenden Jahren unternahmen, war weniger spektakulär, aber zum Teil folgenreicher. Man muss sich, um die Lebensaufgabe der Klarsfelds zu verstehen, noch einmal vergegenwärtigen, in was für einer Gesellschaft ein Kurt Lischka sich nach dem Krieg feinbürgerlich einrichten konnte, und zwar sehr lange nach dem Krieg, bis ins Jahr 1970.

Blond, über einen Meter neunzig groß

Lischka war ein Kölner Unternehmer, international aufgestellt, Getreidehändler. "K. Lischka" an der Tür, "Kurt Lischka" im Telefonbuch, Aktentasche aus Leder, langer Mantel. Er fuhr Straßenbahn, rauchte auf dem Weg zur Haltestelle.

Kurt Lischka, Gestapo-Chef von Paris. Verantwortlich für die Deportation von Zehntausenden französischen Juden in die Konzentrationslager Osteuropas. Bereits vor dem Krieg, mit nicht einmal dreißig Jahren, hatte er das Judenreferat der Gestapo im "Dritten Reich" geleitet und war zuständig für die Massenverhaftungen nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 gewesen. Später: Gestapo-Chef in Köln. Blond, über einen Meter neunzig groß.

Der ehemalige Gestapo-Chef als geschätzter Nachbar

Bundesdeutsche Behörden wussten, wer Lischka war, er war in Frankreich in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden. Die Deutschen lieferten ihn nicht aus, weil das Grundgesetz eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger verbot. Man klagte Lischka aber auch in Deutschland nicht an, und nach 1955 konnte er sich endgültig entspannen. Zwischen Deutschland und den drei Westmächten wurde der Überleitungsvertrag unterschrieben: Wer im Ausland bereits verurteilt worden war, konnte nun wegen des gleichen Tatbestands in Deutschland nicht mehr angeklagt werden.

Das war das eine, die Justiz, der Bundestag, das Kanzleramt. Das andere waren die Bundesbürger. Lischkas Kölner Nachbarn fanden es in Ordnung, neben dem ehemaligen Gestapo-Chef ihrer Stadt zu wohnen. Lischkas Geschäftspartner schätzten seine Zuverlässigkeit, auch seine internationalen Partner, darunter Michel Fribourg, ein aus Frankreich stammender amerikanischer Jude. Fribourg kontrollierte fünfzehn Prozent am Weltgetreidehandel, in Deutschland machte er Geschäfte mit dem Bremer Getreidekönig Kurt Becher, ehemals SS-Obersturmbannführer, und in Köln eben mit Kurt Lischka.

Das war die Atmosphäre. Eine Zeit, als die CIA Klaus Barbie, den Schlächter von Lyon, als Agenten beschäftigte. Als Sozialist François Mitterrand auf dem Grab von Marschall Pétain Blumen niederlegen ließ.

Sonst interessierte sich damals kein Mensch für diese Akten

Die Klarsfelds fanden Lischka, sie legten ihm Kopien seiner persönlich unterschriebenen Gestapo-Befehle vor, und Lischka wurde nachdenklich. Er verwendete in seiner Getreide-Korrespondenz häufig das Wort "Abnahme" - wie bereits in den Vierzigerjahren. Am 15. Mai 1942 etwa hatte er aus Paris nach Berlin gemeldet: "Da weitere Judenrazzien erforderlich sind, jedoch nur eine beschränkte Anzahl von Lagern zur Verfügung steht, wäre ich zunächst für eine umgehende Abnahme von 5000 Juden dankbar." Solche Unterlagen, die später die Grundlage für den Prozess gegen Lischka in Köln bildeten, hatten die Klarsfelds akribisch aus den Gestapo-Akten zusammengetragen, die im Jüdischen Dokumentationszentrum in Paris aufbewahrt wurden. Sonst interessierte sich damals kein Mensch für diese Akten.

Die Geschichte der Klarsfelds ist natürlich nicht unbekannt. Spätestens seit Beate Klarsfeld in Deutschland von der Partei Die Linke als Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin aufgestellt wurde, gab es eine wohlwollende Bilanzierung im kollektiven Gedächtnis - wobei einige Geschichtskenner mit sauberem Zeigefinger auch darauf hinwiesen, dass die Klarsfelds sich verdächtig gut mit den DDR-Behörden verstanden. Serge verschaffte sich etwa Zugang zum Deutschen Zentralarchiv in Potsdam, um Akten über Kiesingers Nazikarriere einzusehen. Und eine Ohrfeige für den Bundeskanzler seitens einer mutigen westdeutschen Frau war natürlich extrem peinlich für den Klassenfeind.

Die Kandidatin Klarsfeld verlor 2012 erwartungsgemäß gegen Joachim Gauck, bald darauf erhob Frankreichs Präsident François Hollande sie in den Rang einer Kommandeurin der Ehrenlegion. In diesem Sommer zeichnete dann Joachim Gauck die Klarsfelds mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse aus, für ihren Einsatz "gegen Antisemitismus und politische Unterdrückung und für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen". Es ist eine verspätete Würdigung, aber keine, die eine weit zurückliegende Leistung würdigt, wie es bei Physiknobelpreisen vorkommt.

Die Klarsfelds kämpfen bis heute gegen Menschen, die in ihren Augen Nazikeime in sich tragen, Leute wie Marine Le Pen oder der Komiker Dieudonné. Neben der Nazijagd dokumentieren sie seit Jahrzehnten die Lebensläufe ermordeter französischer Juden, um an die Opfer zu erinnern.

Vor einigen Jahren traten Beate und Serge Klarsfeld in der Dokumentationsreihe "Nazi Hunters" von National Geographic auf und erzählten, wie sie im März 1971 versuchten, Kurt Lischka nach Frankreich zu entführen. Nichts gegen das Fernsehen, aber das Erinnerungsbuch der Klarsfelds schlägt diese aufwendige Fernsehproduktion samt ihren Spezialeffekten um Längen. Die Klarsfelds können gut schreiben, obwohl sie sich lange nicht sicher waren, ob sie es überhaupt können. Dem Verlag (Fayard Flammarion) hatten sie erst einmal abgesagt.

Wenn einer Getreide abnimmt, wie er früher Juden "abnahm"

"Lischka machte automatisch zwei Schritte auf den Wagen zu, dann merkte er, dass etwas nicht stimmte. David und Elie kamen hinzu. Elie nahm ihm den Hut ab und schlug ihm mit dem Schlagstock auf den Kopf. Das kam uns absurd vor, denn er war fast zwei Meter groß und wog sicher über hundert Kilo - wie sollten wir ihn bis zum Auto schleppen?"

Die Entführung scheiterte, aber die Klarsfelds erreichten, dass das Gesetz, das Lischka und andere Naziverbrecher schützte, geändert wurde und Lischka der Prozess gemacht werden konnte. Er bekam zehn Jahre Haft und kam bereits nach fünf Jahren aus gesundheitlichen Gründen frei. Doch bevor er angeklagt wurde, musste Beate Klarsfeld für sechzehn Tage selbst in Haft wegen versuchter Entführung, und Serge musste Lischka noch in einem fingierten Mordversuch eine Pistole ins Gesicht halten, sie mussten in Lischkas Büro eindringen, ihn auf Kölns Straßen filmen, wie einen aufgeschreckten Luchs, der sehr ungerne weglief.

In einer Zeit, als die RAF mordete, waren das ja eher milde Methoden, aber trotzdem illegale, und die Klarsfelds machten sie sich zu eigen, weil sie schnell erkannten, dass es nichts bringen würde, noch eine Redaktion und noch einen Bundestagsabgeordneten anzuschreiben. Der Zweck heiligte einfach die Mittel, nicht nur in Deutschland, sondern in Frankreich, Lateinamerika, Syrien. Die Klarsfelds jagten Klaus Barbie, Alois Brunner, französische Kriegsverbrecher wie Jean Leguay und René Bousquet. Sie bekamen Morddrohungen und Bomben per Post. Sie hatten Angst, machten aber weiter. So schreibt man an der Geschichte mit.

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